Autograf: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main (D-F), Sign. Mus. Autogr. A. Schmitt A 159

Hochverehrter Freund!

Wenn man so – wie ich – dem geschichtlichen Gange und der Entwicklung der Welt und Zeit – ruhig mit zusieht, und am Ende wahrnimt: daß oft bei hundert Schritte vorwärts, und dann wieder so viele rückwärts - in der Regel in einem Jahrhundert kaum ein Fußbreit Landes genommen wird: so möchte man oft alle Geduld verlieren – und alle Lust – am Leben – an der Kunst und Allem!
Was ist das für eine Richtung jetzt in der edlen Musik? Ist es nicht, als wäre noch gar nichts da und vor uns gewesen? Keine Kunst- und Meistermarke? und: als sei noch keine Bahn gebrochen?
Dieser Wirrwarr der Begriffe – und: daß eigentlich so recht Niemand mehr weiß: „was er will“ - „was Schön“ - „Gut“ - und Recht ist“ - ist mir rein unbegreiflich! - am meisten von Leuten vom Fache, und von sonst ganz ehrenwerthen Musikern, die – wie es in diesen Tagen hier der Fall gewesen sein soll – behaupten: der „Tannhäuser“ sei das Größeste u. Erhabenste, was die Kunst bis jetzt aufzuweisen habe; dagegen der „Don Juan“: veraltete, pedantische unzusammenhängede Musik sei u. was des Unsinns noch mehr ist. Neulich in einem großen Zirkel, wo ähnliches durchs Zeug geschwatzt wurde, welches ich natürlich stumm mitzuhörte, verminderte ich, als man mich zu sprechen aufforderte: „meine Herren! Sie müssen doch die Geschichte von jenem Bauern u. seinem Buben? Erster frug unsachlich(???) über Tische seinen Buben, als er zu Essen aufhörte: „Hannes! bist du satt?“ - „Mein Vater – nur müde kauen(???)“, war die Antwort.
O, wie müde kauen(???) ich bin, kann ich Ihnen gar nicht sagen, hochverehrter Freund! Auch nicht eine Sylbe der Erwiderung. Und wie sprach u. gelbschnablich man satt ist! Alles ist veraltet! alles verstehen sie jetzt besser!
In Gottes Namen machts! Schwatzt was ihr wollt! mich - fügt‘s nicht mehr an. Noch vor nicht lange war ich so dumm: mich zu ärgern und zu ereifern; nun aber – belächle ich Alles, den größesten Unsinn.
Noch wie heute erinnere ich mich, als im eilfer Jahr1 - wo es auch in den leeren Hirnkasten spuckte, andre es dem Cometen2 und der Einwirkung desselben zuschrieb.
Etwas aehnliches muß auch jetzt der Fall sein, denn richtig? - ist‘s in den Köpfen nicht.
O Gott, wie danke ich dem Schöpfer, daß ich meine Kunst ganz nach meinem Gewissen treiben kann! um auch nicht um ein Haar breit geh‘ ich u. gieng ich von dem ab: was ich für Recht u. Gut halte, und – was wahrscheinlich auch so ist, darum: weil das Neue, morgen schon nichts mehr nutze ist u. von etwas anderem – ähnlichem verdrängt wird; während unser „Altes“, „Gutes“ - gleich dem Weine im Fasse – dem Guten – täglich an Geist gewinnt, zu nach dem mir selbst verständiger werden, u tiefere Einsicht verlangen.
Oft will mich bedünken, wenn ich so in die Welt sehe, welches hier selten ist: als sei neue Musik und Alles satt, selbst oft seines eigenen Lebens Glückes sorgen würde3, denn(?) wahr(?), aus welchem Grunde die verdrossenen Gesichter?
Ächte, liebe Heiterkeit – find‘t man fast gar nicht mehr! beinahe bei Niemand. Immer Verdruß u. Hader, wo man nur hinkommt!
Die Mahnung der Zeit habe ich mir so recht gemerkt u. wahrgenommen, nehmlich: sich zu rück zu ziehen in sein Haus, und nur da sein Glück suchen. Eh giebts auch keine Ruhe mehr in der Welt, bevor nicht4 wieder ein Famlienleben statt findet. Recht sehr u. tief fühle u. empfinde ich dieß in meinem eignen Hause, indem mein stetes Trachten darauf gieng: nach einem sogenannten patriachalischen Familienleben. Gott lob! so viel als dieß heut zu Tage möglich? - hab ich‘s erreicht.
Was nun unser Frankfurt anbelangt, so wird viel Musik getrieben, eigentlich viel zu viel. „Quantität gilt, nicht die Qualität“. Unter den hier obwaltenden Umständen ist dieß wohl auch nicht anders möglich.
Irre und täusche ich mich nicht, so möchten sämtliche musikalische Institute auf schwachen Füßen stehen, und – dem Auflösen u. Zusammenbrechen nicht ferne stehen. Manche behaupten sogar: etwas Ernsteres u. Zweckmäßigeres könnte nicht stattfinden u geschehen.
Wahr ist‘s: freuen kann man sich mit Nichts mehr. „Die Welt ist alt, und wird nimmer jung. und niemand mehr glaubt an Verbesserung“.
Verzeihen Sie mir meine heitige Düsterkeit! und wenn meine Lebensphilosophie ziemlich probat sein mag, so sind oft doch die düsteren Momente nicht zu verscheuchen.
Es war mir Bedürfniß ein paar Worte an Sie zu richten.
Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin meine besten Empfehlungen. Recht aus tiefer Seele Ihr Sie hochverehrender

Freund Aloys Schmitt.

Frankfurt d. 6ten July
1853.

Autor(en): Schmitt, Aloys
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen:
Erwähnte Kompositionen: Mozart, Wolfgang Amadeus : Don Giovanni
Wagner, Richard : Tannhäuser
Erwähnte Orte: Frankfurt am Main
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1853070645

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Schmitt an Spohr, 01.09.1852. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Schmitt an Spohr, 12.10.1853, aus dem sich noch ein derzeit verschollener Brief von Spohr an Schmitt erschließen lässt.

[1] Vgl. „[...] denn selbst das, zum Sprichwort gewordene Eilfer Jahr [1811] hatte in den SommerMonaten mehr Regen, als das verflossene Jahr; dem bi dem höchsten ThemometerStande von 25½ und 26 Graden über 0 auch für unser SchussenThal eine italische Sonne beschieden war“ (Johann Georg Eben, Versuch einer Geschichte der Stadt Ravensburg von Anbeginn bis auf die heutigen Tage, Bd. 4, Ravensburg 1832, S. 625).

[2] Der sogenannte „große Koment von 1811“ C/1811 F1 (vgl. Gary W. Kronk‘s Cometography).

[3] „würde“ über der Zeile eingefügt.

[4] „nicht“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.02.2018).