Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.3 <Spohr, Rosalie 18530516>

An
Fräulein Rosalie Spohr
adr. H. Kammerbaumeister Spohr
in
Braunschweig
 
 
Cassel den 16ten
Mai 1853.
 
Meine liebe Rosalie,
 
Allerdings bin ich in Beantwortung Deiner beyden lieben Briefe etwas lässig gewesen; ich glaubte aber, die Beantwortung sey nicht so eilig, weil ich die Ouverture von Herrn Oberthür doch vor nächsten Herbst, bis zu dem Zeitpunkt, wo unsere Winterconcerte wieder beginnen, nicht geben kann, (denn das Trauerspiel ist nicht auf unserm Theaterrepertoir,) und der Meinung war, Madame Schmetzer werde mir ihre Oper ohnehin zur Ansicht schicken, wie sie es schon mit andern ihrer Kompositionen gethan hat. Sehr gern will ich die Oper durchsehen, und ihr, wenn sie es wünscht, ein aufrichtiges Urtheil darüber nicht vorenthalten. Wenn sie aber mit dem Hierhersenden den Wunsch anknüpft, daß die Oper hier gegeben werden soll, so bedauere ich, ihr im Voraus die Aussicht dazu versperren zu müssen, denn die Wahl neu zu gebender Opern hängt nicht von mir, ja nicht einmal von der Intendanz ab, sondern der Kurfürst hat sich die Auswahl selbst vorbehalten. Und er will, wo möglich, keine andern Opern auf seinem Theater sehen, als die von Meyer Beer, Flotho oder allenfals Auber. Die nächste Oper, die wir für seinen Geburtstag einstudiren werden, ist daher auch wieder eine Flotho’sche „Indra“. Nach jahrelangem Solicitiren hat er jedoch erlaubt, daß der „Tannhäuser einstudirt werden durfte, und gestern hat die erste Aufführung stattgefunden. Es ist manches Schöne in der Oper und ein Streben nach edlem, ächt dramatischem Styl; es fehlt aber an der musikalischen Erfindung und daher an guter Musik. In dieser Beziehung steht er tiefer, als seine frühere Oper „der fliegende Holländer“. Mir ist es1 gestern völlig2 klar geworden, daß Wagner der seit Mozart so tief gesunkenen Opernmusik nicht aufhelfen wird, so viel seine absurden Lobhudler in der Leipziger neuen Musikzeitung auch vom „Kunstwerk der Zukunft“ fabeln!3 Vieleicht hätte es Mendelsohn gekonnt, wenn der Tod ihn nicht so früh abgerufen hätte. Die Probe die er in dem Finale zur „Loreley“ gegeben hat, ließ es hoffen!
Es ist noch nicht ganz sicher, daß ich während der bevorstehenden Ferienzeit noch einmal nach London gehe, und hängt die Entscheidung noch von zu erwartenden Briefen ab. Wenn es aber auch dazu kommen sollte, rathe ich dir doch von einer Reise dahin ab. Die Harfe hat in London, wo seit länger als 50 Jahren immer ausgezeichnete Harfenvirtuosen waren, nicht den Reiz der Neuheit und Seltenheit wie in Deutschland und dem Norden von Europa. Auch ist die Reise zu der Zeit, wo ich nach London gehe, bereits zu weit vorgerückt, und man ist durch die Menge d[er] gegebenen Concerte bereits zu sehr abgespannt, um sich noch für Neuigkeiten lebhaft zu interessiren. Dagegen rathe ich aber sehr im Herbst die nun bereits 2 Jahre verschobene Reise nach Holland zu machen, und erwarte mir recht günstigen Erfolg davon. Zu bedauern ist nur, daß du mit der neuen Harfe wieder nicht zufrieden bist. Ich rathe daher, wenn du die Reise nach Holland nicht mit derselben machen kannst, sie so bald wie möglich gegen eine andere zu vertauschen, damit du Zeit gewinnst, dich mit der neuen recht vertraut zu machen. Von allen hiesigen Verwandten die herzlichsten Grüße! Dein dich liebender Onkel
Louis Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf zwei derzeit verschollene Briefe von Rosalie Spohr an Louis Spohr, April oder Anfang Mai 1852 und bis zum 14.05.1852. Der nächste belegte Brief dieser Korrespondenz ist Rosalie Spohr an Louis Spohr, ab dem 18.11.1853.
 
[1] „es“ über der Zeile eingefügt.
 
[2] „völlig“ über der Zeile eingefügt.
 
[3] Vgl. Th[eodor] Uhlig, „Ueber die Schlußscene in Richard Wagner's Tannhäuser”, in: Neue Zeitschrift für Musik 36 (1852), S. 245ff.; „Eine Lesefrucht en miniature”, in: ebd. 37 (1852), S. 137f.; Heinrich Gottwald, „Wagner's Tannhäuser in Breslau”, in: ebd., S. 207-210; Hoplit (= Richard Pohl), „Dresdner Musik. Richard Wagner's Tannhäuser”, in: ebd., S. 210ff. und 220f.; [Richard Wagner], „Ueber die Aufführung des Tannhäuser. Eine Mittheilung an die Dirigenten und Darsteller dieser Oper vom Dichter und Tonsetzer desselben”, in: ebd. 37 (1852), S. 240-243 und 276ff. sowie 38 (1853), S. 4ff. und 14-18; ders., „Ueber Inhalt und Vortrag der Ouvertüre zu Wagner's Tannhäuser”, in: ebd., S. 23ff.; Joachim Raff, „Vertrauliche Briefe an den Verfasser des Aufsatzes ,Tannhäuser, Oper von Richard Wagner' in den ,Grenzboten' Nr. 9”, in: ebd., S. 113f., 136-140, 148ff., 159ff., 172-175, 180ff., 192-196 und 247-250.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (07.06.2017).