Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Scortleben bei Weissenfels in der
Provinz Sachsen den 3. April 1853.
 
Hochgeehrtester Herr General-Musikdirector!
 
Wie könnte ich den 5. April vorübergehen lassen, an welchem Sie, hochgefeierter Herr, durch Gottes Gnade wiederum den Morgen eines Lebensjahres erblicken, ohne daß ich Ihnen meine Hand zum Gruß nicht darreichen sollte. Ja Dank innigen Dank dem Allvater für alle Liebe u. allen Schutz, den er Ihnen durch die Erhaltung Ihres theuren Lebens hat angedeihen lassen. Möge mein heißes Flehen aus dem tiefsten Innern meiner Seele zum Ihren der ewigen Liebe dringen, auf daß noch recht oft der Frühling mit seinem frischen Grün u. seinem Blumenschmucke als freundlicher Himmelsbote Sie begrüße. Möge Gott fort und fort Ihnen die frische und starke Schöpferkraft des Geistes erhalten, durch die Sie in der jüngsten Zeit zwei solch unübertreffliche Meisterwerke (ich meine die Simphonie für zwei große Orchester1 u. Ihre Jahreszeiten) der Welt vorzulegen im Stande waren. Gleich einem großen herrlichen Strom, unbekümmert um das Toben u. Ueberschwellen jener in ein Nichts wieder zurücksinkenden Lüftleins sobald die Sonne nur einige Tage warm geschienen, gehen Sie ruhig Ihre Bahn, und Ihr reicher unerschöpflicher Geist entfaltet in den großartigsten Tondichtungen immer wieder Edles und Unübertreffliches. - Ach, hochgeehrtester Herr Doctor, was für eine Zeit ist‘s doch jetzt auf dem Gebiete der Musik! Mücken wollen der Sonne den Weg zeigen; reden um einen längst überwundenen Standpunkt; und das im Schlamm kriechende Gewürm erfrecht sich den Flug des Adlers zu meistern. Doch ihr Gekrächze und Gekläffe verfliegt wie Spreu vor dem Winde, u. in ihrer Weisheit sind sie, wie die heilige Schrift sagt, zu Narren geworden. Doch Gott sei Dank, es giebt der Treuen noch genug im Lande, die da festhalten an dem Wege, den Sie, edler Herr, mit allen Herren der Vorzeit betreten, und uns zu betreten gezeigt haben. Nein, wir lassen uns nichts verbrandeln(?), sei es durch eine neue oder alte Zeitschrift für Musik2, als wenn nur allein in Wagner Heil u. Seligkeit gefunden werden könnte. Und zu den Treuen rühme ich mich mit meinen zahlreichen Freunden hiesiger Gegend rechnen zu dürfen,3 deren Zahl von Tag zu Tag sich mehret, weil sie den Werth Ihrer classischen Werke mehr u. mehr erkennen, liebgewinnen u. sich dann dauernd dafür intressiren. Durch eine 14jährige unausgesetzte Wirksamkeit Ihrer Compositionen immer mehr u. mehr bekannt zu machen, habe ich die Freude zu sehen, wie fast in allen musikalischen Kreisen hiesiger Gegend man sich bemüht Ihrer ausgezeichneten Compositionen Herr zu werden, u. dann zur Aufführung zu bringen. Aus Ihren Oratorien, Psalmen u. Opern habe ich Vieles für gemischten Chor zum Gebrauch beim liturgischen Gottesdienste als Responsorien eingerichtet und in sehr vielen Kirchen eingeführt, so daß diese Gesänge nun schon ein Gemeingut vieler Gemeinden geworden sind, und an jedem Sonnen und Festtage von Tausenden gesungen werden. Meine Gemeinde geht in dieser Hinsicht als Muster voran. Anfangs werden die Sachen so bald sie eingeübt sind von einem vierstimmigen gemischten Chor von demselben eine Zeit lang allein gesungen, bis endlich alle Gemeindeglieder sie durch Hören erlernt mit einstimmen. Es ist in Wahrheit erhebend von einer christlichen Gemeinde mit Orgelbegleitung diese Gesänge zu hören. Auch habe ich um Todtenfest u. um Charfreitag nach dem Vorgang von Berlin u. Halle4 einen besondren liturgischen Gottesdienst gegen Abend gehalten, u. nur Compositionen von Ihnen aufgeführt. Der Eindruck war gewaltig. - Durch einen auf der großen Saline zu Dürrenberg bestehenden Singverein habe ich im Laufe von 3 Jahren 1., die letzten Dinge, 2., das Vater unser 3, die sämtlichen Psalmen 4., des Heilands letzte Stunden u. 5. Zemire u. Azor aufgeführt. Das überaus großartig gedachte Oratorium Babilon möchte ich gerne zur Aufführung bringen, aber das Borgen der Stimmen von Klemm in Leipzig kostet zu viel. Obschon ich Ihre sämtlichen Gesangcompositionen in der [???] des verstorbenen Hand in Jena erstanden habe, die Sachen sind nämlich gänzlich ausgeschrieben, so war doch darunter das Oratorium nicht inbegriffen. Jetzt werden durch meine Vermittlung in Neustadt a.d. Orla die letzten Dinge aufgeführt, wozu ich die Orchesterstimmen geliefert, die ich mir aus Cassel von Ihrem Violenspieler(?) der Capelle vor 2 Jahren kommen ließ. - Ihre Clavier Trios muß ich in hiesiger Gegend oft spielen, besonders das No 4 in B, meinen Liebling. Es giebt in unsern Tagen keine Art der Musik, welche so viel gespielt wird als eben Trios fürs Clavier. Wir sehr würde ich mich freuen, wenn es Ihnen, Herr General-Musikdirector, gefallen sollte ein Clavier-Trio zu componiren u. zwar einen Satz mit einer Fuge, indem Sie so groß dastehen. Aus den kurzen Angaben meines Lebens für Musik werden Sie ersehen, hochgeehrter Herr, wie u. auf welche Weise meine Thätigkeit gerade für Ihre Musik sich äußert, denn aus ihr qillt meine Seele, ihr Leben, ihr Friede und ihre Wonne. Selbst dann, wenn ich das Werk Gottes verkündigen soll, und ich vergeblich mit dem ehernen Hammer an die Wand des Geistes anklopfte(?), sind es Ihre herrlichen Harmonien, welche mir Lust, Kraft u. Stärke geben das Evangelium beredt und begeistert zu predigen zu können. Wie kann ich Ihnen je vergelten, was ich Ihnen zu danken haben. Ja ich freute mich wie ein Kind, als ich nach Weimar im verflossenen Jahre zur Aufführung Ihrer Oper Faust reiste, u. ich daselbst hörte Sie würden kommen. Dann wäre auch mir wieder das Glück zu Theil geworden Ihnen dankbar die Hand drücken zu können. Im Rath der Fürsten war es leider anders beschlossen!5 - Im Geiste bin ich Ihnen aber hinüber in die Weltstadt London gefolgt, u. habe freudig eingestimmt in den Jubel, wie man dort ehrt Sie den Meister göttlicher Tonkunst.6
Im Geiste trete ich denn auch heute an Ihrem Wiegenfeste vor Sie hin mit einem Herzen voll der heiligsten Segenswünsche für Ihr ferneres Wohlergehen. Ihr theures liebes Bild werde ich u. meine Kinder an dem für Sie so wichtigen Tage bekränzen, damit auch Ihr Andenken bei ihnen im Segen bleibe. Nun so reiche ich Ihnen aus weiter Ferne die treue Hand zum Gruß, u. unterzeichne mich hochachtungsvoll
 
Ew. Hochwohlgeborn
ganz ergebenster
Heinrich Weber Pfarrer.



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Weber, 28.04.1852. Spohr beantwortete diesen Brief am 07.04.1853.
 
[1] Irdisches und Göttliches im Menschenleben.
 
[2] Allgemeine musikalische Zeitung und Neue Zeitschrift für Musik.
 
[3] Hier gestrichen: „u.“.
 
[4] Noch nicht ermittelt.
 
[5] Spohr erhielt keinen Urlaub (vgl. Spohr an Franz Liszt, 21.10.1852).
 
[6] Betrifft die Aufführung der italienischen Rezitativversion des Faust.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.08.2017).