Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: La Mara (= Pseud. für Marie Lipsius), Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892, S. 151ff. (teilweise)
Inhaltsangabe: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einem Exzerpt von Franz Uhlendorff

Cassel den 12ten März 1853.

Geliebter Freund,

Für die freundliche Übersendung Ihres, schon so lange mit Ungeduld erwarteten Werkes sage ich Ihnen den herzlichsten Dank. Ich würde ihn sogleich mit umgehender Post ausgesprochen haben, hätte ich nicht vorher einen Versuch machen wollen, ob ich Ihr Wort verstehen würde. Leider bin ich aber schon in der Einleitung auf allerley gestoßen, was über meinen Horizont geht, und bey mir noch erst einer detaillirteren Belehrung bedarf, so daß ich nun nicht länger mit Schreiben warten will. Besonders ist mir der Satz aufgefallen: „Der Begriff eines künstlichen Tonsystems ist ein durchaus nichtiger"1, weil ich bisher immer der Ansicht war, daß unsere temperirte chromatische Scala, durch deren Erfindung unsere jetzige Musik doch erst möglich geworden ist, eine künstliche, von der Natur abweichende sey! - Ich klagte gestern Abend unserm Freunde Hopf meine Noth, (der schon tief in dem Studium Ihres Werks begriffen ist,) und er meinte, wir würden uns wechselseits manches erläutern und erklären können, er mir in dem, was mathematische Vorkenntnisse verlangt, und ich ihm in dem rein Musikalischen. Wir wollen damit einen Versuch machen. Vielleicht gelingt's. [...]
Was Sie mir über Lohengrin und Tannhäuser schreiben, hat mich im höchsten Grade interessirt. Den Tannhäuser studiren wir nun auch, und ich finde vollkommen bestätigt, was Sie darüber sagen. Es hat diese Musik große Schönheiten, besonders in den Einzelgesängen und eine so künstlich combinirte Stimmführung in den Ensemblestücken, wie ich sie Wagner gar nicht zugetraut habe; im Ganzen genommen ist sie aber doch zu gequält, zu unruhig in der Modulation und fast durchgängig zu form- und rhytmus-los! Ich bin sehr gespannt, sie mit Orchester und dann im Theater zu hören. Die Oper wird reich ausgestattet, und ich werde so viel Proben davon machen, bis sie, so weit es sich mit unsern Kräften zwingen läßt, vollkommen gut geht. Wie diese Oper in Orten, wie z. B. Riga mit Erfolg hat gegeben werden können, ist mir völlig räthselhaft!
Das Finale von Loreley haben wir im letzten Abonnement-Concert gegeben. Da beyde hiesigen Vereine, (der ehemalige Wigand'sche2 steht jetzt unter Bott's Leitung,) es bereits am Clavier gegeben hatten, so konnten wir mit ihnen die Chöre recht zahlreich und sorgfältig eingeübt, besetzen, und da auch die Solostimme durch unsere erste Sängerin Frl. Bamberg sehr gut gesungen wurde, so machte das Ganze einen wohlthuenden Efekt, und hat dem Publiko sehr gefallen. Ich wünschte daher, es im letzten Concerte, gleich nach Ostern, noch einmal wiederholen zu können und bitte daher um Erlaubniß Partitur und Stimmen bis dahin behalten zu dürfen, im Fall sie in Leipzig nicht gebraucht werden. Wenn Sie sie daher nicht einfordern werde ich diese Erlaubnis als zugestanden, voraussetzen. - Am Charfreitage werden wir einmal wieder „Die letzten Dinge" und eine „Hymne an Gott" von mir aufführen.
Unter herzlichen Grüßen von uns an Ihre liebe Frau und Kinder ganz

der Ihrige
Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Hauptmann an Spohr, 09.02.1853 und 03.03.1853. Der nächste überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 27.04.1853.
Uhlendorffs Inhaltsangabe bestätigt den im Druck überlieferten Text: „Über R. Wagners Tannhäuser und Mendelssohns Finale des 1. Akts der unvollendeten Oper Loreley (aufgeführt im Abonnementskonzert am 2.03.1853)“.

[1] M[oritz] Hauptmann, Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der Musik, Leipzig 1853, S. 7.

[2] Die Singakademie.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.01.2017).