Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.2 <18530301>
Inhaltsangabe: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Katalog Liepmannssohn 48), Berlin 1926, S. 174f.

Sr. Hochwohlgeb.
dem
Kurfürstl General-Musikdirector
Herrn Dr. Louis Spohr, Ritter etc.
in Cassel
 
franco.
dabei ein Paquet und Musikalien
in Wachsleinwand, gezeichnet
H.L.S. Cassel0
 
 
Breslau d. 1. März 53.
 
Hochgeehrtester Freund und Gönner!
 
Hierbei remittire ich Ihnen die uns gütigst geliehene historische Sinfonie mit dem besten Dank. Wir haben sie leider noch nicht geben können, weil wir die Zeit zu drei aufeinander folgenden Proben noch nicht gewinnen konnten, indem Opern und Balletproben stattfanden. Unterdessen aber ist die Sinfonie angeschafft worden und wird noch im Laufe des Winters gegeben werden. Für übermorgen ist Ihre dritte in c moll angesetzt, welche das Orchester genau kennt und die mit einer Probe geht. — Die Cholera hat leider wieder bei uns gewüthet, doch nimmt sie im Augenblick bedeutend ab.1 Daß Sie wieder nach London reisen freut mich sehr, könnte ich doch auch hin; leider ist mir dies setzt fast unmöglich, da ich als Hauswirth auf längere Zeit nicht gut fort kann. Im Theater hier hat man einigemal Wagners fliegenden Holländer gegeben, ihn aber wieder bei Seite gelegt, weil er das Publikum zu sehr langweilt.2 Keine einzige Melodie, welche das Herz erquickt, monotone Handlung, zu viel wahnsinnige Leidenschaft, und eine uninteressante Orchesterparthie; die fast nur aus Tremolandos und chromatischen Scalen besteht, können das Interesse nicht fesseln; dabei werden nicht selten die Gesetze der Harmonie mit Füßen getreten. Andere Komponisten haben auch schreckliche Situationen geschildert, dabei haben sie aber die Schönheit der Kunst nie aus dem Auge verloren; da schwöre ich doch lieber zur alten Fahne, statt daß ich Hr. Wagner als einen Reformator der Oper, für den er sich selbst hält, anerkenne. Wenn dumme Menschen sagen, Sie, verehrter Freund, modulirten zuweilen zuviel, so sollen sie nur den Wagner studieren, und sie werden finden,daß Sie dagegen nur Dreiklänge geschrieben haben. Wenn ich Don Juan, Zauberflöte etc., Faust, Jessonda etc. 4händig am Klavier spiele, ganz abgesehen von Gesang, Bühne, Orchester etc. so habe ich schöne Musik, die mein Herz erfreut und deren schöne Formen mir wohl thun; der fliegende Holländer wäre in solcher Gestalt ein formloses Monstrum. Der 2te Act beginnt mit einem Spinnerliede, aber welch’ eines! Wie gequält und schwülstig, ohne Harmlosigkeit; ein3 solches Spinnerlied sich vom Volke gesungen zu denken, ist eine Unnatur; an Haydn’s Jahreszeiten, an Boieldieu’s weißer Dame könnte Hr. Wagner lernen ein heiteres, harmloses Spinnerlied schreiben. Wenn ich viel solcher Musik wie den fliegenden Holländer hören müßte, so würde ich Musik verlernen. — Wie geht es Ihnen sonst? Musiziren Sie viel; wie sehne ich mich nach einem Quartette in Ihrem Hause! Erlaubt es Ihre Zeit, so schreiben Sie mir gütigst wieder einige Zeilen, sie erquicken mich jedesmal.
Ihre liebe Frau Gemahlin bitte ich hochachtungsvoll, so wie alle Bekannten zu grüßen.
 
Ich bin
wie immer
Ihr dankbarer Verehrer
A. Hesse.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hesse an Spohr, 22.01.1853. Da Hesse mit diesem Brief die Rücksendung des Aufführungsmaterials von Spohrs Historischer Sinfonie begleitet, dürfte es in der Zwischenzeit auch noch jeweils einen Brief von Hesse, indem er um die Zusendung bittet, und einen Antwortbrief von Spohr gegeben haben. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hesse an Spohr, 01.06.1853.
 
[0] [Ergänzung 31.01.2022:] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts oben der Poststempel „BRESLAU / 1 8 * 2 - 3“, auf der Rückseite des gefalteten Briefumschlags befindet sich ein stark verwischter Stempel.
 
[1] Vgl. Tülff, „Masern- und Choleraepidemie zu Breslau in den Monaten Januar, Februar und März 1853”, in: Homöopathische Vierteljahrschrift 4 (1853), S. 251-270.
 
[2] Vgl. Didaskalia 09.03.1853, nicht paginiert; Rheinische Musik-Zeitung 3 (1852/53), S. 1102.
 
[3] [Ergänzung 31.01.2022:] Hier gestrichen: „solges“.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (29.04.2016).