Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.2 <18530122>
Druck: Hans Jürgen Seyfried, Adolph Friedrich Hesse als Orgelvirtuose und Orgelkomponist (= Forschungsbeiträge zur Musikwissenschaft 17), Regensburg 1965, S. 36 (teilweise)
Beleg: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Katalog Liepmannssohn 48), Berlin 1926, S. 174f.

Breslau den 22 Januar 1853
 
Mein hochverehrter Freund und Gönner!
 
Nach einer langen Frist von vier Monaten, die mir sehr schnell verflossen, richte ich wieder ein Schreiben an Sie, in der Hoffnung mich recht bald einiger Nachrichten von Ihnen erfreuen zu dürfen. Ich muß die meinigen mit dem Tode meiner lieben Mutter beginnen, der bereits schon am 26ten September v. J. an der Wassersucht erfolgte. Ihr Ende war nach vielen Leiden doch sanft und leicht; mein Schmerz war und ist heut noch groß. Je später man die Eltern verliert, desto weher thut es. Ich hatte nun, da mir die Verwaltung unseres Hauses obliegt, so mancherlei damit zu thun. Da die Jahreszeit noch schön war, benützte ich sie und ließ eine nothwendige Renovation des ersten Stockes, den ich nun allein bewohne, sogleich vornehmen. Ich ließ alles tapezieren, ein Zimmer ganz neu meubliren, und richtete mich hauptsächlich darum so ein, um nicht durch die früheren Gegenstände in dem Zimmer meiner seligen Mutter auf zu herbe Art an den Verlust derselben fortwährend erinnert zu werden. Besuchten Sie Breslau noch einmal, so könnte ich Sie jetzt mit Ihrer Frau Gemahlin bequem bei mir aufnehmen, was mir vor 2 Jahren nicht zu können, sehr leid that. — Gegenwärtig schreibe ich Ihnen diese Zeilen als Patient, da ich wegen eines auf einer kürzlich unternommenen Reise gehabten Schreckes und darauf folgenden Erkältung die Gesichtsrose bekommen, und das Zimmer hüten muß. Ich wurde wegen der Revision einer neuerbauten Orgel nach0 Prag berufen. Dort waren bis jetzt nur schlechte Werke, welche die sogenannte kurze Octave hatten, d. h. denen in der großen Octave der Manuale und des Pedals cis, dis, fis und gis fehlen. Der beste Orgelspieler hätte darauf nichts leisten können. Man findet diesen Übelstand in katholischen Ländern fast überall. Es war mir daher nicht ohne Interesse nach Prag zu gehen, um dort das Werk eines tüchtigen Landsmannes, des Orgelbaumeisters Buckow aus Hirschberg in Schlesien, von dem ich schon mehrere gute Orgeln revidirt hatte, zu übernehmen, und dabei den Pragern auf einer neuen brauchbaren Orgel etwas Neues vorzuspielen. Man interessierte sich allgemein dafür, und die Kirche konnte 3mal die Zuhörer nicht fassen. Ich habe Ihnen einen Bericht darüber und meine Reisenotizen1 beigelegt, es dürfte Ihnen vielleicht manches darin Spaß machen. Meine Aufnahme dort war brillant; Fete folgte auf Fete, der Champagner floß in Strömen. Ich war nur vom 5ten Januar bis 12ten, also 8 volle Tage, in denen ich viel erlebt, wie Sie lesen werden fort1a. In Gesellschaften habe ich auch viel Klavier gespielt. — Nun werther Freund, wie steht Ihre Prozeßangelegenheit?2 Wir lesen daß die Verhandlungen begonnen haben, weiter aber noch nichts. Sie musiziren gewiß auch in diesem Winter viel. Melden Sie mir doch etwas darüber. Die Weihe der Töne gaben wir 2mal hintereinander mit großem Beifall, und wurde sie beidemale von der Theaterkapelle herrlich und mit großer Liebe gespielt. Der Zulauf des Publikums war ungeheuer. — Unser Cardinal Fürst-Bischof Diepenbrock ist vorgestern gestorben. — Gestern früh erschoß ein hiesiger Butterhändler seine Frau, mit der in Unfrieden gelebt,2a Vormittags 11 Uhr auf öffentlichem Markte vor Hunderten von Menschen; das ist doch unerhört!3 — Ihr neues Portrait aus Cassel4 habe ich gesehn. Es ist sehr gut getroffen, glaube ich; allein es ist zu alt, und hat etwas müdes, hinfälliges. Sie selbst sehen viel frischer, lebenskräftiger aus.
Schreiben Sie mir recht bald und recht viel.
Herzliche Grüße an Ihre liebe Frau Gemahlin und alle Bekannte.
 
Wie immer
Ihr dankbarer Verehrer
Adolf Hesse.

Autor(en): Hesse, Adolph
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Buckow, Carl Friedrich Ferdinand
Diepenbrock, Melchior von
Hesse (Mutter von Adolph Hesse)
Langner (Butterhändler in Breslau)
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Die Weihe der Töne
Erwähnte Orte: Breslau
Prag
Erwähnte Institutionen: Stadttheater <Breslau>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1853012231

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hesse an Spohr, 15.09.1852. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hesse an Spohr, 01.03.1853, aus dem sich wahrscheinlich jeweils ein derzeit verschollener Brief von Hesse an Spohr und von Spohr an Hesse erschließen lassen.
 
[0] [Ergänzung 31.01.2022:] „nach“ über gestrichenem „zu“ eingefügt.
 
[1] Hesses Bericht in der Breslauer Zeitung ist vom Spohr Museum noch nicht erschlossen; eine knappe Paraphrase befindet sich in: „Ad. Hesse”, in: Rheinische Musik-Zeitung 3 (1852/53), S. 1103. Vgl. auch „Prag, 8. Jan.”, in: Kurier für Niederbayern 6 (1853), S. 54; dass. in: Allgemeine Zeitung <München> (1853), S. 181.
 
[1a] [Ergänzung 31.01.2022:] „fort“ über der Zeile eingefügt.
 
[2] Spohr hatte in den Theaterferien 1851 seinen Sommerurlaub angetreten, obgleich sein Urlaubsgesuch noch nicht bewilligt war (Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 345). Am 02.03.1852 wurde ihm dafür eine Geldstrafe von 550 Reichstalern verhängt, gegen die er prozessierte (vgl. ebd., S. 349f.; „Kassel, 7. Jan.”, in: Nürnberger Kurier 16.01.1853, nicht paginiert; Land-Bote 03.02.1852, nicht paginiert).
 
[2a] [Ergänzung 31.01.2022:] Hier gestrichen: „f“.
 
[3] Vgl. Würzburger Zeitung 13 (1852), S. 1019
 
[4] Dieses Porträt ist zumindest mit einem Publikationsdatum 1852/53 nicht erfasst in: Herfried Homburg, „Bildnisse Louis Spohrs. Eine vorläufige Bestandsaufnahme”, in: Louis Spohr. Festschrift und Ausstellungskatalog zum 200. Geburtstag, hrsg. v. Hartmut Becker und Rainer Krempien (= Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz 22), Kassel 1984, S. 209-230. [Ergänzung Karl Traugott Goldbach (30.06.2016): Es handelt sich wohl um das vom Verlag Luckhardt in Cassel angekündigte Porträt („Ankündigungen”, in: Signale für die musikalische Welt 10 (1852), S. 480). Dies wäre nach Homburgs Katalog die Nummer 26.1: „Brustbild nach links. Lithographie. Nach 1850 [...] Bezeichnet: ,W. Pfaff'. Ohne Notenzeilen, aber mit faksimiliertem Namenszug”].
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (28.04.2016).