Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sondershausen, am
31. December 1852.

Hochverehrtester Herr!

Jetzt erst gelingt es mir, meinem im letzten Briefe gegebenen Versprechen, Ihnen von meiner ausgedehnten Reise Etwas mitzutheilen, nachzukommen und ich hoffe, daß Ihnen diese kurzen Reisenotizen eben nicht uninteressant sein werden, als Ihnen wieder die Stätten vorgeführt werden, die Sie selbst oft und zwar gewiß auch mit inniger Lust und Freude durchwandelt haben. – Was Sie mir in Ihrem lieben Briefe vom 29. Julius, für den ich noch herzlich danke, über Musikangelegenheiten Londons mitgetheilt, hat im Allgemeinen seine Bestätigung gefunden, und nur im Coventgarden-Theater konnte ich bei der Aufführung einiger großen Opern zugegen sein. Die reiche Ausstattung des Orchesters, die Pracht und der Glanz auf der Bühne hat mich natürlich ganz befriedigt, doch wünschte ich dabei zugleich(?), um etwa 14 Tage früher in London gewesen zu sein, um von unserm echt deutschen Meister seinen Faust aufgeführt zu sehen und meinen Beifall mit dem von Tausenden zu vereinigen. Julien’s Pietro il Grande, die ich unter andern auch hörte, hat so vieltönende(?) viele(???) Seiten und nicht Unrecht(???) hat gewiss ein Recensent von dieser Oper, wenn er sagt: „Der Verfasser hat uns dies am Werke beweisen wollen, daß man eine Oper einzig und allein der Tanzmusik schreiben kann – Durch einen Zufall machte ich auch noch die Bekanntschaft des Violinvirtuosen Ernst, der sich aber zu meinem bedauern nur kurze Zeit in London aufhielt und nach paris reiste. Das wäre es etwa, was ich noch meinen kleinen Reisenotizen beizufügen hätte; meinen Hauptzweck, verehrtester Herr, habe ich vollkommen erreicht und sollte ich diese Reise noch einmal vornehmen, woran ich gar nicht zweifle, dann werde ich womöglich eine günstigere Zeit wählen, in der mir mehr Gelegenheit geboten wird, musikalische Interessen zu verfolgen. –
Unsere Capelle steht bis jetzt noch immer ohne Oberhaupt. Hr. Netzer, der mir aufgetragen, ihn Ihnen gar angelegentlichst zu empfehlen, hat einige Konzerte im Laufe dieses Monats geleitet, scheint aber seine pecuniäaren Forderungen zu hoch gestellt zu haben und die Verhandlungen mit ihm scheinen abgebrochen. Mir ist dieser gedachte Netzer in der kurzen Zeit seines Aufenthalts recht lieb geworden und ich glaube sicherlich, unsere Capelle hätte einen recht gute Akquisition in seiner Person gemacht. Er erinnerte sich Ihrer und Ihrer verehrten Frau Gemahlin mit großer Liebe und war immer noch glücklich, daß Sie für seine Oper so viel Interesse an den Tag gelegt hatten1 – Unser Musikverein, dessen ich mich noch immer mit dem regsten Eifer annehmen, nimmt seinen ruhigen Gang; ich fühle mich in meinem Streben aber auch daher sehr belohnt, daß mir wenigstens eine ziemlich große Zahl von unsern Mitgliedern so ernst für classische Msik empfänglich gemacht haben. Sie mein verehrtester Herr Capellmeister sind ja auch noch durch Ihre so herrlichen und gediegenen Compositionen ein Hauptträger unsers Vereins. namentlich sind es Ihre sogenannten „Quatuor brillant“, die mit dem größten Entzücken und der ungetheiltesten Lust gehört werden; das in E Dur (op. 43) habe ich seit meiner Rückkehr schon zweimal wiederholen müssen. Hierbei erlaube ich mir die(?) Bitte, Sie wollen mir nämlich gelegentlich gefälligst die opert(???)2 Ihrer ausgezeichneten Soloquartetten die vorzüglichsten für unsern Verein angeben und bemerke dabei nur noch dass die Quartetten in E Dur, H Moll3, A Dur4 schon zu Gehör gebracht worden sind. Wie vielmal ich mir auch schon gewünscht habe, Sie einmal auf wenige Tage in unserm Musikleben zu sehen und Sie in meinen kleinen Räumen, die meine liebe Frau so wohnlich als möglich machen würde bewirthen zu können5, so verlor ich doch zu solchen Einladungen wirklich allen Muth, als man Ihnen sogar nach Weimar zur Aufführung Ihres Faust einen zweitägigen Urlaub abgeschlagen hat6 – Die Zeit mahnt, daß ich hier abbreche und erlaube mir Ihnen nur noch mitzutheilen, daß ich nach meiner Rückkehr aus London in Celle als □ Bruder aufgenommen7 und mit Ihnen sonach, der Sie ja demselben Bunde angehören, in näher Beziehung getreten bin. Zu bedauern habe ich nur, daß wir in unserm kleinen Residenzstädtchen selbst keine □ haben, doch arbeite ich in dieser edeln Kunst recht munter fort und suche ihr hohes Ziel im gewöhnlichen Leben zu verwirklichen – Und so leben Sie wohl, entschuldigen Sie mein vielleicht zu langes Schreiben, das übrigens aus ernster Liebe und Verehrung geflossen; es grüßt und küsst Sie im Geiste tausendmal

Ihr ewig dankbarer
Carl Haessler,
Collaborator u. Realschull.



Dieser Brief ist die Antwortet auf Spohr an Haessler, 29.07.1852. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Haessler an Spohr, 05.01.1856.

[1] Vgl. Joseph Netzer an Spohr, 25.04.1844.

[2] Opusnummern?

[3] Op. 61.

[4] Op. 68 oder 93. – Daneben komponierte Spohr noch die Soloquartette in d-Moll op. 11 und Es-Dur op. 83.

[5] „bewirthen zu können“ über der Zeile eingefügt.

[6] Haessler entnahm dies wahrscheinlich „Vermischtes“, in: Neue Zeitschrift für Musik 37 (1852), S. 246f.

[7] Haesslers Beziehung zur Freimaurer-Loge kam vermutlich über seinen Schwiegervater Heinrich Christan Heimbürger zustande, der an der Stadtkirche in Celle Pfarrer war.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (24.07.2020).