Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Freiburg, d. 29sten Dez. 1852.

Hochgeehrtester Herr!

Ich bin so frei und schreibe Ihnen auf's neue Jahr dießen Brief. Ich wurde den 22sten zur Conscription in's Badische abgerufen. Vom Militär-Dienste bin ich befreit. – Ich befinde mich auf der Rück-Reise nach München u. hoffe bis 2ten Januar dort zu sein. –
Den musikal. Unterricht anlangend, so habe ich den Contrapunct der Oktave vollendet; deßgleichen den der Dezime. Beim Contrapuncte der Quinte od. Duo-Dezime wurde ich schnell und überrascht abgerufen. –
Unter dießen Contrapuncten gefällt mir namentlich der der Oktave sehr gut, und ich habe dessen Anwendung auch praktisch – für mich – versucht. Ueberhaupt kann ich Ihnen, – mein lieber Herr – nicht genug sagen, wie mich das Erlernte recht sehr freut, und wie viel Vergnügen ich empfinde, wenn ich (im Vergleiche zu früher) immer mehr Sicherheit in der Ausführung von Formen verspüre! – Ich glaube jezt schon, es, trotz meiner 21 Jahre, noch (daher meine Sicherheit?) dahin bringen zu können, daß man mir einstens das „späte“ Studium in meinen Compositionen nicht anmerkt; nur fürchte ich, und mein Herr Lehrer1, ich möchte es nie zu einem sogen. praktischen Musiker bringen. So weiß ich (zum Beispiel) oft nicht anzugeben, in welcher Tonart ich mich befinde – beim Anhören einer mir fremden Composition; –
Ingleichen weiß ich z.B. auch nicht sicher, welchen Ton ich gerade höre, wenn man mir einen einzelnen Ton singt, oder spielt. Ganze modulatorische Harmoniefolgen erkenne ich ganz wohl, aber nur weiß ich nicht immer zu sagen, ob dieße Accord. Folgen in C Dur oder – adaequat – in F Dur p.p. sind. Kurz: mein praktischer Musik-Sinn ist ganz schlecht bestellt. Da ich Leute genug kenne, die in solcher Hinsicht das mit Leichtigkeit erfaßen, was ich mit viel Mühe nicht immer kann erkennen, so macht mir das oft Sorgen. – NB. Tonstücke (im ganzen Total-Eindrucke) erfaße ich leicht – Ihrer Anlage nach. –
Auch darüber bin ich im Zweifel, ob ich nicht das Nöthige zum Violin-Spiel – besonders über den Bogenstrich – ohne Instrument erlernen könnte? –
Aut Caesar aut nihil2 – deßhalb lerne ich nicht (ohne Noth) gerne Violin-Spielen. –
Lieber Herr! dürfte ich Sie nicht bitten, mir einmal gelegentlich hierüber Ihre Meinung zu schreiben? – Ich bitte Sie recht freundlich darum! –
Entschuldigen Sie meine schlechte Schrift – ich habe Ihnen nicht bei besserer Muße u. eher schreiben können, da ich von der Militär-Geschichte überrascht wurde. Wenn das Schreiben noch auf's Neue Jahr bei Ihnen ankommen soll, so mußte ich Ihnen noch auf der Reiße schreiben. –
Zum neuen Jahr wünsche ich Ihnen recht viel Glück und Segen. –
Wenn die Glocke meiner Heimath läutet, und mein Herz in wehmüthigen Jugend-Erinnerungen so rein u. schön mit dem silbernen Glöcklein harmonirt, während mein Geist von Plänen für die Zukunft erfüllt ist, so taucht ein Bild hervor aus diesem süßen Chaos von Empfindungen, ein Bild, das in allen Träumen mit mir lebt – das Bild meines hohen Meister's und Gönners – meines edlen Wohlthäters u. väterlichen Freundes – „Louis Spohr“ – darum:
Heil und Ehre Ihm! –
Ihrem Wunsche gemäß werde ich Ihnen später v. München aus Näheres über mein Studium musical. schreiben, und mit eigenen Arbeiten belegen; Indessen bitte ich Sie recht herzlich:
Behalten Sie Ihren Schwarzwälder so lieb und bleiben Sie ihm so gut wie im alten Jahre. Gott gebe, daß ich Ihnen dereinst viel Freude machen kann!!!
Und nun leben Sie wohl und gesund

Hochachtungsvoll
der Ihrige
dankbare
F.J.A. Keppner.
In Eile.

Zur Adresse für alle Fälle:
Türkenstraße No 62/3. St.

Autor(en): Keppner, Franz Joseph (Sohn)
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Maier, Julius Joseph
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: München
Erwähnte Institutionen: Konservatorium <München>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1852122946

Spohr



Der letzte Brief dieser Korrespondenz ist Keppner an Spohr, 04.11.1852. Der nächste Brief dieser Korrespondenz ist Keppner an Spohr, 30.01.1853.

[1] Julius Joseph Maier.

[2] „Entweder Caesar oder nichts“ (Wahlspruch Caesare Borgias; vgl. z.B. Julius Schneller, Weltgeschichte, Bd. 3, hrsg. v. Ernst Münch (= Julius Schneller‘s hinterlassene Werke 13), Stuttgart 1841, S. 311).

Kommentar und Verschlagwortung, sofern in den Anmerkungen nicht anders vermerkt: Wolfram Boder (11.10.2019).