Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sr. Wohlgeboren
Hrn. Generalmusikdirector
Dr. Louis Spohr
in
Cassel

d. E.


Mein theuerster, hochverehrtester Meister!

So sehr ich auch in meinem häuslichen Leben im Augenblick beunruhigt bin – meine arme Frau liegt nämlich seit einigen Tagen sehr bedenklich krank – so drängt es mich doch, Ihnen einige Worte zu schreiben.
Am Sonntag war ich in Weimar, und bald erfuhr ich, daß Ihre Vermuthung in Erfüllung gegangen war.1 Der Unwille darüber war allgemein. Man hatte mit höchster Freude Ihrer Ankunft entgegengesehen. Sie hätten gewiß einen schönen Tag in Weimar erlebt.
Faust ging nach meinem Dafürhalten ganz vortrefflich. Bis aufs Kleinste war Alles gut einstudirt u. besetzt. Mehrere Nummern erhielten von dem übervollen Hause die lebhafteste Acclamation u. in mehren Kreisen, in denen ich mich2 sowol während der Aufführung als auch nach derselben befand, wurde mit dem höchsten Enthusiasmus von der Oper gesprochen. Freilich fehlte es auch nicht an Gegnern, es sind solche, die außer Wagner kaum noch Beethoven anerkennen. Solche Geister richten sich selbst. Uebrigens ließen doch auch diese der Instrumentation in dem Werke nicht nur sondern auch der dramatischen Auffassung an mehren Puncten alle Gerechtigkeit widerfahren. Erstere nannte man durchweg wundervoll.
Darf ich meine Ansicht über die Oper aussprechen, so steht sie, was harmonischen u. rhythmischen Fluß, was Adel des Ausdrucks u. Schattirung der verschiedenen Situationen betrifft keiner andern von irgend einem Meister nach, ja es dürften sich nur wenige mit ihr vergleichen lassen. Ich kann es nicht leugnen, es hat mich oft wahrhaftes Staunen ergriffen. Nur an ein paar Stellen u. zwar in den Hexensituationen hätte ich mehr Leidenschaftlichkeit resp. Mehr diabolisches Element gewünscht. Hier ist, meine ich, die Musik zu naiv, zu rein3 menschlich; sie macht mehr die Wirkung eines leidenschaftlichen Scherzo's als des teuflischen Hohn's u. der höllischen Inbrunst. Doch ich bin weit davon entfernt, dies als einen objectiven Mangel bezeichnen zu wollen; es wäre die Frage, ob ich nicht mit Ihnen übereinstimmte, wenn ich die Oper noch ein, zwei Male hören könnte; ferner die Frage, ob überhaupt eine Teufelei, wie wir sie durch unser dogmatisches Christenthum kennen gelernt haben u. wie sie seitdem in unserer Phantasie spukt, Vorwurf für die Musik sein kann. Wir haben zwar dergleichen Musik schon, indessen sie kann – darüber bin ich mir klar – keinen Maßstab abgeben für die Beurtheilung anderer Auffassungsweisen u. um so weniger, als eben alle Vorstellungen von höllischen u. himmlischen Zuständen aller objectiven Wahrheit ermangeln.
Noch muß ich bemerken, daß auch in Bezug auf Decorationen u. Maschinerie Vortreffliches geleistet wurde. Namentlich war der Schluß, die Hölle pp. wundervoll.
Mit der Bitte um Nachsicht u. Entschuldigung, wenn ich in diesen aphoristischen Bemerkungen Falsches, Verkehrtes zu Tage gefördert bin ich

mit ewiger Liebe u. Verehrung
Ihr
F. Kühmstedt

Eisenach am 28t Octbr
1852.

Autor(en): Kühmstedt, Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Spohr, Louise
Erwähnte Personen: Beethoven, Ludwig van
Wagner, Richard
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Faust
Erwähnte Orte: Weimar
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Weimar>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1852102840

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 24.08.1852.

[1] Spohr erhielt keinen Urlaub, um bei der Weimarer Erstaufführung des Faust anwesend zu sein (vgl. Spohr an Ferdinand von Ziegesar, 20.10.1852).

[2] „mich“ über der Zeile eingefügt.

[3] „rein“ über der Zeile eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (20.08.2020).