Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

München d. 21sten Oktober 1852. –

Hochgeehrtester Herr.

Mein lezter Brief mit dem beigefügten Zeugniße meines Lehrers werden Sie indess erhalten haben. Ich kann Ihnen nun die Nachricht mittheilen, daß ich das badische Stipendium mit 500 Fl. jährlich erhalten habe. Es ist dies das höchst Mögliche, was ich erlangen konnte, und ich erhalte es, nach den Fortschritten – zwei, wo nicht dreimal. Ich zweifle nicht daran, daß auch Ihnen diese Nachricht viel Freude machen wird. Zugleich lege ich Ihnen 2 Lieder (ohne den Text) bei, die eben weiter nichts als Correctheit des Satzes und Sangbarkeit der Stimmen beweisen sollen. Sie werden wohl auch daraus ersehen, was ich jetzt nach und nach tiefer fühle, daß ich bei Herrn J. Maier „guten“ Unterricht erhalten habe??? Wir stehen gegenwärtig im Contrapunct der Oktave und werden bis Frühjahr mit der Kompositionslehre wohl fertig sein. Bis dorthin möchte ich bei meinem Lehrer bleiben, der mir in jeder Hinsicht ein trefflicher Mann zu sein scheint, und meinen Fleiß, so wie mein gutes Betragen überall lobend anerkennt. Doch weiß ich nicht, ob mich meine Sehnsucht, den ehrwürdigen alten Herrn, und einen der ersten Künstler, (was auch Neid, Dumm- oder Bosheit dagegen hat) in der Person des Herrn L. Spohr zu besuchen, bis Frühjahr hier zurückhält. Wahrscheinlich wird es mir möglich, bei Gelegenheit der Conscription nach Kassel zu reisen. Für diesen Fall würden Sie mich erfreuen und ehren zugleich, wenn Sie mir mittheilen würden, ob Ihnen mein Besuch in Kassel angenehm ist. Ich habe auch noch den Zweck, mündlich mit Ihnen über ein Werk zu sprechen, das mir schon lange im Kopf und in der Feder steckt, es ist dies eine Orchester-Ouvertüre zu Shakespeare's „Hamlet“. Allein ich weiß nicht ob es bis Weihnachten schon fertig sein kann, und ich hoffe, daß ausdauernder Fleiß den Mangel an ästhetischer Bildung ersezen wird, – wenigstens der Hauptsache nach. Mein Notizbuch steht voll von [???] Gedanken, aber was mich fast zur Verzweiflung brachte, war die mir gestellte Aufgabe, das Ganze aus einer Idee zu gestalten; doch dämmert es so und so in mir, und irre ich nicht, so feiert mein Witz „am Ende“ doch noch einen Triumph! – Wie unbescheiden!!! Das wage ich nur „Ihnen“ zu sagen. Mit obiger Ouvertüre kann auch möglicherweise irgend etwas erzielt werden, wovon später. Die herrliche Symmetrie in Ihrer Introduction zu des Heilands lezt. St. hat mich in Vielem unterstüzt. Ueberhaut scheint es mir, besonders nach Anhörung der Jessonda1 dahier, als ob ein Fortschritt zu vollendeteren Formen durch Ihre Musik zu gehen habe, oder vielmehr schon in Ihrer Musik ein kräftiger Fingerzeig zu einem besseren musikal. Zeitalter enthalten sei. Ich werde dies mündlich besser, und am besten durch m. obig. Ouvertüre Ihnen beweißen. Und so wie in der Musik, so scheint mich auch im Leben so Vieles an Sie zu weißen. Denn ich habe in dies. Halben Jahre bittere Lebens-Erfahrungen gemacht, und sehe eben, daß ich mich in Summe mit dem Gedanken versöhnen müsste: „Die Welt wird – mit wenigen Ausnahmen – von Eigennuz und Falschheit regiert.“ – Wenn ich zu den wenigen Ausnahmen Sie zähle, so glaube ich nicht zu irren. Ich habe vor 5-6 Monaten einige Compositionen ganz in Ihrer Schreibweise gemacht, – nicht aus Sucht nachzuahmen, denn ich hoffe nicht besser zu thun, als schon Vorhandenes zu verunstalten; dies hat bei einigen Herren, die Ihr mir ausgestelltes Zeugniß2 mit – was weiß ich wie vielerlei – Gefühlen gelesen haben, die äußerst pfiffige und niederträchtige Ansicht ins Leben gerufen, als dürfe ich mir gar nichts zu Gute thun auf „Ihr“ Urtheil, da eine Nachahmung von „Ihren“ Compositionen mir die Gunst erworben! – ? Weiß ich doch und Sie auch, daß zur Zeit, als Sie mir Ihr Zeigniß ausstellten, keine Spur von Spohr'scher Musik in meinen damaligen Arbeiten zu sehen war. Und zudem steht ja Ihr Carakter so hoch, wie Ihre Musik, was selbst A. Schindler anerkennen würde, kennte er das menschliche Herz so gut, wie das Tempo einer Composition.3
Sehen Sie, lieber Herr, solche versteckte Bosheiten ärgern mich infam, und ich könnte Ihnen noch Manches derartige mittheilen. Sie mögen daraus ersehen, wie Ihr Wohlwollen zu mir, gar Menschen ein Dorn im Auge ist, und wie mich gerade das um so stolzer darauf macht. Wären Sie in der Musik weniger groß, oder lebten Sie nicht mehr, – ich glaube es ginge Ihrer musikalischen Richtung weit besser. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie unendlich ich mich freue, Sie persönlich kennen zu lernen, und auch einmal mit einem vernünftigen Wesen in dieser Narrenwelt zu spredchen. Ich denke deshalb oft mit schwärmerischer Innigkeit an Sie, und bitte Sie schließlich nochmals mir oben unterstrichene Bitte zu gewähren. Indessen leben Sie recht wohl und glücklich

Hochachtungsvoll
der Ihrige
F. „J.A.“ Keppner.

Adresse: „Vor“ I November d.J.
Bayerstraße 24/3 St.
„Nach“ I November d. J.
Türkenstraße 62/3 St.

Autor(en): Keppner, Franz Joseph (Sohn)
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Maier, Julius Joseph
Schindler, Anton
Erwähnte Kompositionen: Keppner, Franz Joseph : Hamlet
Keppner, Franz Joseph : Lieder, Sgst Kl
Spohr, Louis : Des Heilands letzte Stunden
Spohr, Louis : Jessonda
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <München>
Konservatorium <München>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1852102146

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Keppner an Spohr, 05.08.1852. Spohr beantwortete diesen Brief am 29.10.1852.

[1] Die letzte vor diesem Brief liegende Münchener Aufführung von Spohrs Jessonda war am 12.10.1852 (vgl. Theaterzettel zu Giacomo Meyerbeer, Der Prophet, Hoftheater München 31.10.1852).

[2] Vermutlich das von Spohr im Januar 1851 erstellte Zeugnis (vgl. Keppner an Spohr, 21.12.1851).

[3] Vgl. Anton Schindler, „An die Redaction“, in: Neue Zeitschrift für Musik 13 (1840), S. 146ff. Spohr reagierte auf Schindlers Anwürfe mit seinem Brief an Robert Schumann, 25.11.1840.

Kommentar und Verschlagwortung, sofern in den Anmerkungen nicht anders vermerkt: Wolfram Boder (26.09.2019).