Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.2 <18520915>
Beleg: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Katalog Liepmannssohn 48), Berlin 1926, S. 174f.

Breslau d. 15. Sept 1852
 
Mein hochgeehrter Freund und Gönner!
 
Gern hätte ich schon längst an Sie geschrieben, wenn es mir nicht gänzlich an Stoff gefehlt hätte; doch war das, wie ich einsehe, eigentlich0 kein Grund, da Sie dessen genug haben, und mir es höchst interessant ist, von Ihnen selbst über Ihren Faust etwas zu hören.1 Unsere Zeitungen2 brachten nur kurze Notizen über Ihre damit2a gefeierten Triumphe.3 Theilen Sie mir doch recht bald gütigst etwas darüber mit. Ihre liebe Frau Gemahlin ist nun längst dem Getümmel der Regent- und anderer Streets entrückt, und befindet sich in stiller Gemüthlichkeit im traulichen, schönen Garten. Ich konnte mir ihre Sehnsucht darnach sehr lebhaft denken, fühlte ich mich selbst doch leichter, als ich aus dem trouble heraus war. Meine Rückreise habe ich in 2½ Tagen gemacht, und fand meine gute Mutter, von der ich unterwegs nicht wußte, ob sie noch lebte oder schon begraben war, (da der Brief meines Bruders bis zu meinem Eintreffen hier 12 Tage datirte) etwas erleichtert; sie konnte mir bis an die Stubenthür entgegen kommen. Ihr Befinden hat bis jetzt gewechselt, doch nun bin ich sehr bekümmert; ihr Leib wird sehr hoch, die Beine sind angefchwollen und ihr Zustand ist ein sehr preßhafter, dabei ist die Schwäche außerordentlich; sie kann nach der Meinung des Artztes nur noch hingehalten werden. Auf der Rückreise hatte ich eine barbarische Hitze auszustehn, und habe ich die ersten drei Wochen meines Hierseins fortwährend mit geschwollenem Gesicht, Blutschwären, Hals- und Augenentzündung zu kämpfen gehabt; es mußte irgend ein Gift in mich gefahren sein. — Meine Kirche wird3a jetzt restaurirt und soll zu ihrem 400jährigen Jubiläum im Glanz sein; man wendet große Summen daran; einige Chöre sind weggerissen worden, sodaß sie freier und geräumiger sein wird. Ich muß fortwährend3b mit einer verhängten Orgel spielen, damit kein Staub hineindringt. War nicht unser wohlbeleibter Propst Krause bei Ihnen? er wollte Sie einen Augenblick besuchen. Heut wird in unserem Theater der Freischütz mit neuer, brillanter Wolfschlucht-Dekoration gegeben, Flugwerke, Maschinerien alles neu; trotzdem kann ich mich damit nie befreunden. — Neulich gaben wir im Konzert eine alte, prächtige Ouvertüre aus Semiramis (f moll)3c von Catel; sie ist großartig und von erschütternder Wirkung; auch die erste Sinfonie in f moll von L. Maurer, welche dazu gegeben wurde, ist ein schönes, herrliches Werk; das Adagio ist hinreißend schön; die Sinfonie ist in Leipzig vor vielen Jahren erschienen und doch so wenig bekannt; dabei ist sie eine brillante Aufgabe für das Orchester, und wird von unserer Theaterkapelle meisterlich exekutirt.
Nun mein werther Freund, schreiben Sie mir ja recht bald; grüßen Sie Ihre verehrte Frau Gemahlin und alle Freunde und Bekannte.
 
Wie immer
Hochachtungsvoll
Ihr
dankbarer Verehrer
A. Hesse.
 
Seit meiner Rückreise von London bin ich um 3 Zoll magerer geworden, was mich sehr freut; die 7 englischen Meilen, welche [ich] an einem Sonntage Mittags bei 30 Grad Hitze im Schatten von Higath über Primrose-Hill bis Oxford-Street zu Fuße machte, mögen dazu beigetragen haben. Nächstens werden3d hier die4 Tannhäuser von Richard Wagner gegeben werden5; ich bin gespannt von diesem Reformator, der in einer Broschüre unsere bisherige Opern, ihre Form, Arien, Ensemblestücke etc. verwirft6, etwas zu hören: Lißt, Berlioz, Wagner — — — ich wittere ein Narrenhaus.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hesse an Spohr, 10.06.1852. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Hesse an Spohr, 22.01.1853.
 
[0] [Ergänzung 31.01.2022:] Hier gestrichen: „nicht“.
 
[1] Hesse, der die London-Reise gemeinsam mit Spohr gemacht hatte, kehrte vorzeitig zurück, nachdem er Nachrichten über den schlechten Gesundheitszustand seiner Mutter bekommen hatte (vgl. Marianne Spohr, Tagebucheintrag 05.07.1852).
 
[2] Noch nicht ermittelt.
 
[2a] [Ergänzung 31.01.2022:] „damit“ über der Zeile eingefügt.
 
[3] Vgl. „Royal Italian Opera”, in: Musical World 30 (1852), S. 457ff.; [Henry Chorley], „Royal Italian Opera”, in: Athenaeum (1852), S. 780; „The Theatres”, in: Spectator 25 (1852), S. 679; „Spohr's Faust”, in: Literary Gazette (1852), S. 566; „Royal Italian Opera”, in: Illustrated London News 21 (1852), S. 46; „London”, in: Neue Berliner Musikzeitung 6 (1852), S. 248; Neue Zeitschrift für Musik 37 (1852), S. 82.
 
[3a] [Ergänzung 31.01.2022:] Hier gestrichen: „s“.
 
[3b] [Ergänzung 31.01.2022:] Hier gestrichen: „bei“.
 
[3c] [Ergänzung 31.01.2022:] „(f moll)“ über der Zeile eingefügt.
 
[3d] [Ergänzung 31.01.2022:] „werden“ über der Zeile eingefügt.
 
[4] Sic!
 
[5] Vgl. „Deutsches Theater”, in: Europa. Chronik der gebildeten Welt (1853), S. 32.
 
[6] Falls Richard Wagner, Oper und Drama, Leipzig 1852 gemeint ist, ist das Wort „Broschüre” wohl ironisch verwendet.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.04.2016).