Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Bern im Anfang Juni 52.

Hochgeehrter Herr Kapellmeister!

Ihrer gütigen Verzeihung glaube ich gewiß zu sein, wenn ich Ihnen von Zeit zu Zeit Kenntniß gebe von meinen Fortschritten im Musikstudium.
Meine Mutter, die mich auf einige Tage besucht, reist bald wieder nach Cassel und ich benutze diese Gelegenheit.
Da ich mich um ein Stipendium der Mozart-Stiftung bewerbe, so war es nötig, daß Streichquartett ernstlich zu studiren. Wie schwer das ohne eigentlichen Lehrer, ohne andere Hülfsmittel ist (nur wenige Streichquartette von Mozart standen mir zu Gebote) liegt auf der Hand. Ich habe eines komponirt und hatte vor 8 Tagen Gelegenheit, den 1. Satz, Menuett und Adagio (das Finale war noch nicht ganz fertig) spielen zu hören. Wohl muß ich1 gestehen, meine Erwartungen wurden übertroffen. Leider konnte die Execution keine gelungene sein, die Spieler wirkten das erstemal zusammen (bisher bestand hier kein Streichquartett); auch sind nur erste Geiger (Arnold) und der Cellist Petzold tüchtige Musiker. Dennoch habe ich2 viel gelernt davon, auch werde ich die Composition noch mehrmals zu hören bekommen, ganz leicht ist sie nicht.
Einmal die Woche kommt nun das Streichquartett zusammen; sie spielen erst Haydn, dann soll Mozart Beethoven und Andere kommen. Ich werde stets zugegen sein. Leider fehlen die Partituren.
Das musikalische Leben im musikalischen Bern hat bedeutende Fortschritte gemacht, wenn auch unter den hiesigen Musikern immerfort Parteiung hersteht(???).
Mein nächstes Ziel ist das: das Streichquartett und Orchesterinstrumentation zu studiren. Um die Wirkung und den Charakter pp der einzelnen Instrumente kennen zu lernen, scheint es mir gut (da mir ein eigentlicher Lehrer fehlt), Solostücke (mit Clavierbegl.) zu schreiben. Mit diesen besuche ich die betreffenden Musiker, um sie vortragen zu lassen. Rathen Sie mir nicht davon ab, so werde ich’s in’s Werk setzen. Da mir vielleicht einige Musiker nicht zur Hand gehen möchten, so bitte ich Sie ergebenst um eine eindringliche Empfehlung; denn Ihre Autorität wird eine moralische Nöthigung sein, davon sie sich nicht entziehen können.
Habe ich so etwas geschafft, gearbeitet, studirt, so würde ich (Deutschland ist für mich abgesperrt) nach Zürich zu Herrn R. Wagner gehen, um bei ihm, wenn Sie mir nicht abraten, weitere Studien zu machen.
Entschuldigen Sie mein langes Schreiben u genehmigen Sie die Versicherung der reinsten Verehrung.

Ihr
ergebenster
G. Lotzgesell.

Autor(en): Lotzgesell, Georg
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Mendel, Johann Jacob
Wagner, Richard
Erwähnte Kompositionen: Lotzgesell, Georg : Lieder
Lotzgesell, Georg : Quartette, Vl 1 2 Va Vc
Erwähnte Orte: Bern
Erwähnte Institutionen: Mozartstiftung <Frankfurt am Main>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1852060544

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lotzgesell an Spohr, September 1851.

[1] Hier ein Wort gestrichen.

[2] Hier zwei Wörter gestrichen.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (13.07.2023).