Louis Spohr an Ernst Weißenborn in Weimar

Hochgeehrter Herr!
 
Die Ouverturen, die Sie mir zur Ansicht geschickt haben, sind ganz und gar unter dem Einfluss des allerneuesten Geschmacks in der Komposition geschrieben worden, was ich zwar bei einem jungen Künstler sehr erklärlich finde, da ein solcher sich der Einwirkung desselben nicht entziehen kann, was aber ein alter Künstler wie ich, der seine Studien nach Mozart und Haydn gemacht hat, unmöglich gut heißen kann. Es fehlt Ihren Ouverturen, wie fast allen neuesten Kompositionen, an einer thematischen und kontrapunktischen Durchführung der musikalischen Gedanken, sowie an innerem Zusammenhang, der darin bestehen muß, daß sich ein Thema aus dem anderen entwickelt. Bei den älteren klassischen Vorbildern, besonders bei Mozart, hat der Zuhörer daher auch stehts das Gefühl, als könne nichts anderes folgen, als was wirklich folgt; bei den Allerneuesten wird man dagegen immer durch Ungehöriges, was sich dem Vorhergehenden nicht anschließen will, überrascht. Sie scheinen mir auch mit den modernen Komponisten die Unempfindlichkeit gegen überklingende Härten in der Harmonie zu teilen, indem ich in Ihren Ouverturen Vorhalte finde, und zwar recht lange, zu denen Sie die vorgehaltene Note in derselben Oktave wiederholt anschlagen lassen, was wenigstens in früherer Zeit, als ich meine Studien gemacht habe, hart verpönt war. Im übrigen habe ich recht viel Gutes im einzelnen und auch neues in Ihren Ouverturen gefunden, was mir sehr gut gefallen hat und gewiß auch Talent für Komposition verbürgt. - Daß ich Kompositionen in diesem neuesten Stile, der neueren Stile, der meinen Kunstauffassungen widerstrebt, nicht wohl empfehlen kann, werden Sie aus Vorstehendem schon abgenommen haben. - Indem ich Ihre Ouverturen zurücksende, unterzeichne ich
 
hochachtungsvoll ergebenst
Louis Spohr.