Autograf: Bibliothek des Evangelischen Ministeriums im Augustinerkloser Erfurt (D-EFm), Sign. Autographensammlung Ketschau-Scheidemann

Cassel den 8ten Mai
1852.

Hochgeehrter Herr,

Das Kühmstedt‘sche Oratorium „die Verklärung des Herrn“ ist ein achtungswerthes Kunstwerk, das manches Schöne enthält und deshalb auch verdient aufgeführt zu werden. Besonders sind es einige fugirte Chöre, die vielen Werth haben, weil der Verfasser in der That große Gewandheit im Contrapunkt besitzt. Seine Erfindung ist nicht so reich, weshalb auch die Sologesänge größtentheils den Chören nachstehen. Diese letzteren1 sind sehr schwer und werden von Dilettanten-Vereinen wohl selten ganz genügend ausgeführt werden können, besonders die Männerchöre. Es liegt aber hauptsächlich daran, daß der Komponist nicht verstanden hat, sie durch das Orchester gehörig zu unterstützen. Ich habe ihn auf diesen Mangel aufmerksam gemacht und er hat2 ihn bey der hiesigen Aufführung selbst empfunden. Ich zweifle daher nicht, daß er die Orchesterparthie seines Oratoriums, vor der Veröffentlichung desselben nochmals überarbeiten wird.
Der Bericht über die hiesige Charfreitagsaufführung des K.schen Oratoriums in der Erfurter Zeitung3 hat mich allerdings, in mehr als einer Hinsicht sehr in Erstaunen gesetzt. Denn wenn es auch, wie oben auseinandergesetzt ist, ein achtungswerthes Kunstwerk ist, so darf es deshalb doch4 noch lange nicht den Mendelssohn‘schen Oratorien, besonders dem „Elias“ an die Seite gesetzt werden. Zweitens wird in dem Bericht mit gesperrten Lettern der äußerst mangelhaften Aufführung des Oratoriums“ erwähnt. Da ich es eingeübt und dirigirt habe, so darf ich darüber nicht schweigen.5 Wahr ist es, daß ein Männerchor, der nur mit einigen dürftigen Posaunen- und Horn-Tönen dann und wann begleitet ist, sehr unrein und roh gesungen wurde,6 obgleich ich ihn, eben dieser mageren Begleitung wegen mehr wie das Übrige hatte üben lassen. Ferner wurde am 7stimmigen Satz für Solostimmen ohne alle Begleitung bey der Aufführung dadurch verdorben, daß 2 Dilettanten einige ihrer Eintritte verfehlten. Da das Oratorium aber zu seiner Besetzung 12 Solosänger verlangt, so hatte ich sie nicht sämtlich durch unsere Theatersänger besetzen können, und war genöthigt, auch Dilettanten herbeizuziehen. Wie wenig zuverlässig diese, besonders in Mittelstimmen und in der Eintheilung sind, werden Sie auch schon genug erfahren haben. So geschah es eben, daß auch diese Nummer, die in den letzten Proben ohne Fehler ging, in der Aufführung verdorben wurde. Der Berichterstatter hätte dessen erwähnen können, durfte aber nicht verschweigen, daß alles Übrige gut executirt wurde, und daß besonders einige der Solosänger, namentlich Fr. Meier7 als Maria und die Herren Schloss als Johannes und Kremenz als Satanas so vortrefflich waren, daß an ihren Leistungen auch nicht das mindeste auszusetzen war. Ebenso hätte er auch der Vortrefflichkeit des Orchesters Erwähnung thun sollen, welches namentlich die fugirte Ouverture sehr gut und wirkungsvoll executirte. Am meisten hat mich der Bericht aber dadurch in Erstaunen gesetzt, daß er mehrere Perioden enthält, die mir Herr Kühmstedt in einem früheren Briefe, fast Wort für Wort eben so schrieb. Da es nun überdies hier in Cassel keinen Fr. Schmidt giebt, auch keinen anderen Berichterstatter, dessen Styl mit dem des Erfurter Berichts Ähnlichkeit hätte, so würde ich keinen Augenblick zweifeln, daß K. den Bericht selbst geschrieben habe, wäre es nicht gar zu unglaublich von einem Manne von Bildung und Klugheit, daß er so über eigne Arbeiten schreiben könne.
Ich will also lieber glauben, daß ein unbegreiflicher Zufall bey diesem Bericht gewalltet habe. Deshalb bitte ich auch, von diesem Briefe keinen öffentlichen Gebrauch zu machen, da ich Herrn K. bey seinem Bestreben, sich geltend zu machen, in keiner Weise in den Weg treten will.
Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr
ergebener
Louis Spohr.

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Ketschau, Andreas
Erwähnte Personen: Dustmann-Meyer, Louise
Kremenz, Philipp
Kühmstedt, Friedrich
Schloß, Max
Erwähnte Kompositionen: Kühmstedt, Friedrich : Die Verklärung des Herrn
Mendelssohn Bartholdy, Felix : Elias
Erwähnte Orte: Kassel
Erwähnte Institutionen: Cäcilienverein <Kassel>
Hofkapelle <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1852050813

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Ketschau an Spohr, 06.05.1852.

[1] „letzteren“ über der Zeile eingefügt.

[2] Hier ein Wort oder eine Silbe (drei Buchstaben, Beginn „h“) gestrichen.

[3] Dem Autograf des Vorbriefs liegt ein noch nicht bibliografisch erschlossener Zeitungsausschnitt bei. Dieser Text ist unverändert nachgedruckt als Fr. Schmidt, „Kassel, 15. April (Fr. Kühmstedt)“, in: Urania 9 (1852), S. 90f. (die Urania erschien in Erfurt).

[4] „doch“ über der Zeile eingefügt.

[5] Vgl. „Cassel“, in: Neue Berliner Musikzeitung 6 (1852), S. 142f.

[6] Hier gestrichen: „ob er“(?).

[7] Marie Meyer, später verheiratete Dustmann.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (29.08.2017).