Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287


Mein theuerster, hochverehrtester Meister!

Nur wenige Worte wollen Sie mir jetzt gestatten. Zugleich mit diesem Briefe habe ich für das Ausschreiben meines Oratoriums noch 14 Rth. 20 Sgr. senden müssen, so daß also die Ausschreibegebühren gerade 59 Rth. 20 Sgr. u. mit dem Porto 60 Rth. u. x Sgr. machen. Jedoch ich schlage das gar nicht an. Dafür, daß mein Oratorium durch Ihre Hand dem Publicum vorgeführt worden ist, dafür würde ich noch ein dreimal größeres Opfer bringen, wenn es nöthig wäre. Die letzten 14 Rth. 20 Sgr. haben mich nur – und das ist das Unangenehme – im Augenblick außer Stand gesetzt, im Verlauf dieser Woche die Reise nach Cassel noch einmal zu machen. Es ist mir dadurch wirklich unmöglich geworden, Sie, theuerster Mann, noch einmal zu sehen u. Ihnen die Grundzüge meiner Theorie entwickeln zu können, worauf ich mich auch sehr gefreut hatte. Gern hätte ich auch in einem ruhigen Momente mit Ihnen u. Ihrer Frau Gemahlin, die an meiner Arbeit so sehr Theil genommen hat, noch Einiges besprochen, was jetzt erst anfängt, Gegenstand kritischer Untersuchungen zu werden. Ich will davon nur Eines nennen, das ist: die Bedeutung des Oratoriums u. der Oper für unsere Zeit. Es ist nicht zu leugnen, daß wir uns in wie in der Religion u. der Politik so auch in der Kunst u. namentlich in der Musik in einem kritischen Momente befinden. Religion Wissenschaft u. Kunst haben von je her in Wechselwirkung zu einander gestanden, doch so, daß die Wissenschaft oder ich will lieber sagen das Bewußtsein von der Welt die religiöse Anschauung, u. diese wieder die Kunst bestimmt hat. Nicht nur unser bisheriges Orator. sondern auch die Oper zum Theil ruht auf unserer jüdisch-christlichen Weltanschauung. Die daraus gewonnenen Begriffe von Himmel u. Hölle, Gutem u. Bösem, Verführung zu demselben u. Erlösung von demselben u. damit das persönliche Auftreten oder die Personificirung dieser Bergriffe (Comthur u. Höllengeister im Don Juan, Samiel im Freischütz, Faust u. Mephisto im Faust von Ihnen pp., pp.1 auch in Jessonda) bilden die Grundlage oder den wesentlichen Inhalt unseres philosophischen nicht nur, sondern unseres künstlerischen Denkens u. Fühlens. Es ist das natürlich ja nothwendig, weil sich der Einzelne, das Individuum nur innerhalb der Allgemeinheit bethätigen kann. Diese alte Weltanschauung ist aber jetzt gewiß nicht mehr das alle Herzen Erfüllende. Der alte Himmel u. die alte Hölle pp. sind verschwunden. Sie genügen dem sich zur Allgemeinheit u. Nothwendigkeit aufschwingenden Menschengeist nicht mehr. Wir stehen bereits auf einem ganz andern Standpuncte. Dies muß natürlich zurückwirken auf die Kunst, wie es auch immer gewesen ist. Es fragt sich daher vorzugsweise, wie müssen jetzt Opern- u. Oratorientexte beschaffen sein um den Anforderungen des vordringenden Geistes zu entsprechen?
Darüber möchte ich wol Ihre Ansicht u. die Ansicht Ihrer Frau Gemahlin hören. – Doch, ich wollte mich ganz kurz fassen, um Sie so wenig wie möglich zu belästigen u. habe mich schon wieder verlaufen. Entschuldigen Sie. Es ist kein Mensch auf der Welt, dem ich so ganz mein Inneres erschließen könnte u. möchte als Ihnen. Nichts ist ja so erhebend als in dem großen Künstler auch den großen Menschen u. durchgebildeten Geist zu finden, In der That, ich fange jetzt erst an, Ihre Compositionen zu verstehen, seitdem mir Ihr individuelles Wesen näher getreten ist. Heute früh z.B. ging ich mit meinem Schüler, dem jungen Winterberger den ersten Satz Ihrer Symphonie: Die Weihe der Töne, durch; da machte der junge Mann große Augen, als ich ihm Inhalt u. Form u. die wundervolle Entwicklung u. Beziehung der Gedanken auseinandersetzte. – Ich habe es mir auch vorgenommen, so bald wie möglich, etwas über Ihre Eigenthümlichkeit als Opern- Oratorien- u. Symphoniencomponist zu schreiben. Denn ich bin der festen Überzeugung, daß es nur sehr Wenige gibt, die das Grundwesen Ihres Styl's erfasst u. begriffen haben. Doch nun zum Schluß. Die Erfüllung meines Wunsches, Ihnen einen Einblick in meine Theorie zu gewähren, muß für jetzt verschoben werden. In den Pfingstferien denke ich aber wieder flott zu sein.
Mit der Bitte, mir Ihr Wohlwollen zu erhalten u. mich Ihrer Frau Gemahlin bestens zu empfehlen bin ich
mit ewiger Liebe u. Verehrung
Ew. Wohlgeboren
ganz ergebenster

F. Kühmstedt

Eisenach am 14t April
1852.

Autor(en): Kühmstedt, Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Winterberger, Alexander
Erwähnte Kompositionen: Kühmstedt, Friedrich : Die Verklärung des Herrn
Mozart, Wolfgang Amadeus : Don Giovanni
Spohr, Louis : Faust
Spohr, Louis : Jessonda
Spohr, Louis : Die Weihe der Töne
Weber, Carl Maria von : Der Freischütz
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1852041440

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 31.03.1852. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 06.07.1852.

[1] Hier gestrichen: „)“.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (17.08.2020).