Autograf: bis mindestens 1943 im Besitz von Werner Wittch, danach vermutlich Kriegsverlust
Druck: Folker Göthel, „Louis Spohr als Pädagoge. Zu seinem 100. Todestag am 22. Oktober 1959”, in: Musik im Unterricht 50 (1959), S. 301-304, hier S. 304)

Cassel, den 4. April 1852

Mein lieber junger Kunstbeflissener,

Ihre liebe Zuschrift, die mich recht erfreuet hat, hätte ich sogleich nach deren Empfang beantwortet, wäre ich nicht damals mit einer wichtigen und sehr eiligen Arbeit beschäftigt gewesen1, die alle Zeit, die ich von meinen Berufsgeschäften erübrigen kann, ausschließlich in Anspruch nahm. Nun ist sie beseitigt, und ich kann die ins Stocken gerathene Korrespondenz wieder aufnehmen.
Ihr Brief hat mich erfreuet, weil aus ihm eine recht innige Begeisterung für Musik hervorleuchtet. Halten Sie an ihr fest und ermüden Sie nie in Ihrem Streben, so wird das Ziel nicht unerreicht bleiben! - Sie wünschen von mir zu wissen, welche Musik Sie neben der Schule zunächst noch spielen sollen? Ich halte dazu die Rode’schen Solo-Quartetten und Konzerte am geeignetsten, dann können Sie sich auch an meinen Solo-Quartetten und Konzerten versuchen. Aber kehren Sie immer von Zeit zu Zeit zu der Schule zurück und ruhen Sie nicht eher, als bis Sie alle Etuden derselben rein, sauber und mit allen vorgeschriebenen Nuancen von Stärke und Schwäche herausbringen können. Das Schwierigste beym Violinspiel ist die vollkommen reine Intonation. Bitten Sie daher Ihren Lehrer, daß er diese beym Unterreicht besonders streng überwache. Bevor Sie die Rode’schen Sachen einüben, muß die Bogeneinteilung in der Weise, wie ich es in der Schule mit dem 7. Konzert gemacht habe2, auch bey den andern Rode’schen Kompositionen von Ihrem Lehrer bezeichnet werden. In früherer Zeit war man in der Bezeichnung der Stricharten und der Vortragsweise sehr nachlässig und überließ alles zu sehr der Wahl des Spielers. Bitten Sie daher Ihren Lehrer, daß er alles was er Sie spielen läßt, vorher in der Weise bezeichne, wie es in der Schule gelehrt ist.
Ich bin einigermaßen in Verlegenheit, was ich Ihnen für ein Werk zum Studium der Theorie empfehlen soll, da mir die neu erschienenen unbekannt sind. Am meisten wird die Kompositionslehre von Marx in Berlin gerühmt3; zu dieser mögte ich daher raten.
Es wird mich freuen, wenn Sie mir von Zeit zu Zeit Nachricht über den Fortgang Ihrer Studien geben wollen. Vieleicht kann ich Ihnen dann noch mit weiterem Rat nützlich seyn.

Hochachtungsvoll Ihr
Dr. Louis Spohr

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Müller, Julius
Erwähnte Personen: Marx, Adolph Berhard
Erwähnte Kompositionen: Rode, Pierre : Konzerte, Vl Orch, op. 9
Spohr, Louis : Faust
Spohr, Louis : Violinschule
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1852040419

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Müller an Spohr.

[1] Die Rezitative für die italienische Fassung des Faust für die Inszenierung an Convent Garden in London.

[2] Louis Spohr, Violinschule, Wien [1832], S. 197-217.

[3] Adolf Bernhard Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch theoretisch, 3. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1846, 3. Aufl., Bd. 2, ebd. 1847, 2. Aufl., Bd. 3, ebd. 1848.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (15.12.2016).