Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Mein theuerster, lieber Meister!

Sie müssen mir schon gestatten, daß ich Sie noch einmal, ehe es mir vergönnt ist, Ihnen durch einen herzlichen Händedruck meine Liebe u. Verehrung zu bezeugen, durch einige Zeilen belästige. Daß meine Gedanken jetzt stets bei Ihnen sind und ich1 mir lebhaft vergegenwärtige, wie Sie bemüht sind, mit Aufopferung Ihrer Zeit u. Mühe eine Arbeit2 von mir aus der Nacht an das Licht zu bringen u. was ich Ihnen dafür schuldig bin, das dürfen Sie glauben.
Je näher die Zeit heran rückt, wo die Arbeit unter Ihrer Hand vom Stapel laufen soll, desto ängstlicher wird mir es zu Muthe. Ich habe wirklich Tag u. Nacht keine Ruhe. Ich weiß nicht, ob es Ihnen in der Zeit, wo Sie die ersten Ihrer großen Werke, dem Publicum vorführten, auch so ergangen ist. Tausend Zweifel quälen mich; was mir sonst an dem Orator. gut, ja als gelungen erschien, das kömmt mir jetzt anders vor. Ich stelle mir vor, Sie, der Meister, müssen vorzugsweise mit der Arbeit unzufrieden sein; hier u. dort werden Sie Schülerhaftes finden. Und was wird nun endlich das Publicum sagen, das Publicum, welches nie darauf Rücksicht nimmt3, mit welcher Mühe u. mit welcher Arbeit u. unter welchen ungünstigen Verhältnissen oft ein Kunstwerk zu Stande gebracht worden ist? – Kurz ich liege auf der Folter! – Nur Ihre Güte u. Nachsicht beruhigt mich wieder, auch die Überzeugung, daß das Werk unter Ihrer Meisterhand auch mit seinen Mängeln für das Publicum eine runde Gestalt bekommen wird. Am meisten fürchte ich den instrumentalen Theil. In Bezug auf Institution bin ich, wie es mir scheinen will, noch ein Schwächling. Wie sollte ich hier auch diese schwere Kunst erlernen? – Sollte Ihnen, mein theuerster Meister! in dieser Richtung etwas begegnen, was Sie nicht billigen könnten, so wollen Sie gütigst nur ganz beliebig ändern; ich werde es Ihnen ewig Dank wissen, denn meine Arbeit kann dadurch nur gewinnen. – Nun der Himmel möge seinen Segen dazu geben!
Ich kann nicht schließen, ohne Ihnen mitzutheilen, daß ich vor 8 Tagen in Weimar eine Oper von Berlioz hörte, nämlich Benvenuto Cellini.4 Wenn Sie die Oper nicht in Paris gehört haben, so dürfte sie Ihnen wol noch unbekannt sein, denn meines Wissens ist sie in Deutschland noch nicht aufgeführt worden u. wird wol auch schwerlich noch von einem andern Ort als Weimar, weil Liszt ein persönlicher Freund von Berlioz ist u. sich ganz in dieser excentrischen Musik verloren hat, gegeben werden. Der Held der Oper: Cellini ist Ihnen gewiß bekannt. Er war ein genialer Goldschmied, dabei aber auch ein großes Talent besaß, genial-liederliche Streiche zu begehen. – Doch besser ist es, ich lege Ihnen den Text bei; wenn Sie der Gegenstand interessirt, so finden Sie vielleicht bis dahin, wo ich selbst nach Cassel komme, ein Stündchen Muse, ihn zu lesen. – Deßhalb nur wenige Worte über die Musik.
Sie hat eine gute u. eine schlechte Seite. Die gute Seite ist der instrumentale Theil. Hier finden sich wirklich die kunstreichsten u. effectvollsten Combinationen. Es ist durch u. durch die ausgesuchteste Symphoniearbeit. So sehr das interessirt u. so gut es erscheinen kann, wenn man sie allein ins Auge fasst u. ihr Verhältniß zur Singpartie nicht berücksichtigt, so muß man sie dessenungeachtet tadeln, sobald es eine Wahrheit ist, daß die Instrumentation in der Oper nicht Selbstzweck sondern nur Mittel ist. Daher kömmt es denn auch, daß die Oper vorzugesweise den Geist, den Verstand in Thätigkeit setzt. – Áber Alles das was uns Deutsche uns an unsern klassischen Oper, an: Don Juan; Freischütz; Jessonda pp. entzückt, d.i. schöne Melodie u. Characteristik der Persönlichkeit u. der Situation – davon ist im Cellini auch – keine Spur. –
Doch um Ihnen nicht lästig zu werden, theuerster Meister schließe ich hier. Vielleicht darf ich Ihnen mündlich noch Einiges referiren. – In der frohen Hoffnung Sie bald zu sehen
bin ich mit ewiger Liebe u. Verehrung

Ihr
ergebenster
F. Kühmstedt

Eisenach am 28t Mrz
1852.

Autor(en): Kühmstedt, Friedrich
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Berlioz, Hector
Liszt, Franz
Erwähnte Kompositionen: Berlioz, Hector : Benvenuto Cellini
Kühmstedt, Friedrich : Die Verklärung des Herrn
Mozart, Wolfgang Amadeus : Don Giovanni
Spohr, Louis : Jessonda
Weber, Carl Maria von : Der Freischütz
Erwähnte Orte: Paris
Weimar
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Weimar>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1852032840

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Kühmstedt an Spohr, 01.02.1852. Der Postweg dieses Briefs überschnitt sich offensichtlich mit einem derzeit verschollenen Brief von Spohr an Kühmstedt.

[1] „ich“ über der Zeile eingefügt.

[2] Die Verklärung des Herrn.

[3] „nimmt“ über der Zeile eingefügt.

[4] Zur Weimarer Erstaufführung vgl. „Aus Weimar. Den 26sten März“, in: Neue Zeitschrift für Musik 36 (1852), S. 156-159 und 204-208 (mehr nicht erschienen).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (17.08.2020).