Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Mein theuerster hochverehrtester Meister!

Vielleicht haben Sie schon längst einige Zeilen von mir erwartet, wenigstens in Bezug auf das mir übersandte Manuscript, „das neue Lehrsystem der Musik zum Generalbaß von Hn. J. M. Bach.“1 Doch das war mir, so gern ich es auch gethan, so viele Veranlassung ich auch in mir selbst u. in den Producten meiner bisherigen Thätigkeit, vorzugsweise in Bezug auf2 Theorie, Wissenschaft der Musik, dazu fand u. so sehr ich auch durch die letzte mir so wohlthuende Bemerkung Ihres lieben Briefes angeregt wurde, nicht möglich. Schon 14 Tage ohngefähr vor Zusendung des „Bach'schen Manuscr. erkrankte mir meine Frau und – das Schicksal (bei dem ich ohnedieß schlecht angeschrieben stehe) wollte mich einmal den Becher des Unangenehmen bis auf den Grund ausleeren lassen – einige Tage darauf erkrankte auch ich, u. zwar sehr heftig. Erst seit 3 Tagen habe ich das Bett verlassen u. bin so weit wieder restaurirt, daß ich zur Noth einen Gedanken zu denken vermag.
Was nun zunächst das neue „Lehrsystem des Hn. J. M. Bach“ betrifft, so bedurfte es nur weniger Stunden, ja wahrhaftig nur weniger Augenblicke, sich von der gänzlichen Unbrauchbarkeit dieses Machwerks zu überzeugen. Es ist mir in der That in theoretischer Beziehung noch nichts zu Gesichte gekommen, was so wenig den Anforderungen, die man in gegenwärtiger Zeit an die Theorie der Kunst macht u. zu machen sich gedrungen fühlt, entspräche. Der Mann muß gar nicht wissen, was ein Marburg, Kirnberger Albrechtsberger, Weber, Marx pp, pp, in dieser Beziehung bereits schon geleistet haben. [Zwar spricht Hr. Bach in seiner Abhandlung von der Fuge u. dem Contrapunct auch von Marburg u. Kirnberger, allein in einer Weise, daß es einen jammert!]3 Das Ganze enthält im Grunde nichts als ein paar andere Handgriffe für die gewöhnliche Accordbehandlung. Das eigentlich Theoretische ist geradezu vollständiger Unsinn. Jede Seite, jeder Satz ist dies. Und von dem, was Noth thut, da ist auch kein Wort, kein Wort zu finden. Auf welcher Stufe der künstlerischen Bildung muß der Mann stehen! Und welche Anmaßung, Ihnen einen solchen Wahnsinn zu schicken mit solchen Prätensionen? Doch genug davon! Was soll ich aber mit dem Ding machen? Soll ich es dem Verfasser oder Ihnen verehrtester Hr. Kapellmeister zuschicken? Wollen Sie einmal einen Blick hineinwerfen? Sie würden gewiß manchmal hell auf lachen. Das wäre aber auch die einzige Revanche, die Sie für den Zeitverlust erhielten. – Mit den Musikern sieht es im Allgemeinen, was Denken und Bewußtsein anbelangt, immer noch sehr übel aus. Einbildung, Dünkel, Anmaßung sind dann in der Regel ihre besten Eigenschaften. Wenn sie kaum 3 – 4 Accorde zusammensetzen können, halten sie sich selbst für große Componisten, wollen richten, schreiben neue Harmonien- u. Compositionslehren u. maßen sich sogar an, Werke anerkannter, großer Meister zu bekritteln. So habe ich vor einiger Zeit in Weimar von der dortigen jungen Künstler-Clique, die sich um Liszt geschaart hat u. der ihnen also dessen Ansichten u. Aussprüche ihnen als Evangelium gelten, Urtheile über Mozart Weber u. andere große Künstler gehört, die an Frechheit u. Dummheit alles übertrafen. Allenfalls Beethoven lassen sie noch gelten. Richardt Wagner ist ihnen der Heiland. Wer nicht in dessen, unbedingtes Lob einstimmt, wer ihn nicht für den Reformator, für den Gott erklärt, der, wie sie sagen, den Augiasstall ausfegt, u. wer ihn nicht unbedingt nachahmt u. zu seiner Fahne schwört, über den wird ohne Gnade u. Barmherzigkeit das Anathema ausgesprochen. Solche Erscheinungen – u. leider! sind sie nicht blos in Weimar zu finden – beweisen mehr wie irgend was Andres, wie tief das Volk noch an Kopf u. Herz steht. Jeder neuen Macht unterwirft es sich mit hündischer Demuth u. kreuzigt das unmittelbar Vorangegangene. – Als ob neben der Lilie nicht auch die Nelke, die Rose u. neben der Rose nicht auch das Veilchen schön u. herrlich wäre! u. als ob der liebe Gott nur lauter Lilien oder Rosen hätte schaffen müssen. Aber so weit geht ihr Verstand nicht. Von dem objectiv-Schönen, -Wahren u. -Guten haben keine Vorstellung, noch weniger aber davon, daß die Idee des Schönen nur in unendlicher Mannigfaltigkeit individueller Gestaltungen sich verwirklicht u. daß deßhalb jede dieser individuellen Erscheinungen mit allen übrigen gleichberechtigt ist. Cela –
Im October vorigen Jahres annoncirte Prof. Kloß im hiesigen Wochenblatte 2 große Symphonie-Soireen, ausgeführt von der Kapelle zu Cassel u. geleitet von dem Ehrendirector des Bachconservator.4 Hr. Generalmusikdirektor Dr. Spohr; aber schon sind5 wir in das neue Jahr hinein u. noch hat Hr. Kloß, dessen Aufenthalt uns ganz unbekannt ist, trotzdem daß seine ganze Familie, (Frau u. 3 erwachsene Kinder) hier leben, keine Anstalten getroffen, sein Versprechen zu erfüllen. Schier muß ich glauben, daß auch dies, so wie Alles, was der Mann sagt u. thut, eine Schwindelei gewesen ist, u. Sie, verehrtester Meister, gewiß nichts davon wissen.
Es thut mir sehr leid, daß ich mich habe mit dem Manne eingelassen; es hat mir das in der Verfolgung meiner eigenen Idee sehr geschadet. – Ich muß Ihnen doch, verehrtester Herr Kapellmeister erzählen, was es hier in Eisenach mit dem Bachconservator. für eine Bewandtniß hat, denn wahrscheinlich hat Hr. Kloß auch Ihnen davon viel vorgeschwindelt.
Im Juni vorigen Jahr's kam Kloß zu mir u. machte mir die Proposition, ihm an ein Bachconservatorium, welches er mit Anfang Novembers (1851) in Halle ins Leben rufen werde, als erster Lehrer der Theorie der Musik pp. zu folgen. Als ich darauf erwiederte: obwol ich selbst schon seit längerer Zeit mit dem Plan umgehe, eine derartige Lehranstalt zu begründen, so würde ich doch seinem Rufe folgen, wenn anders die Sache auf einer6 sichern Basis ruhe; übrigens müsse ich mich wundern, wie er auf den Gedanken gekommen sei, diese Idee in Halle zu realisiren; viel natürlicher sei es gewesen, dies in Weimar oder Eisenach dem Geburtsorte Bach's zu versuchen. Ich unterstützte dies noch mit einigen andern Gründen u. kaum hatte ich so meine Ansicht ausgesprochen, so antwortete Kloß: „Nun es ist ja noch nichts verloren, wir können es ja auch in Eisenach versuchen.“ Er war in der That gleich fertig; ich mußte ihn zum Oberburgermeister wie zum Präsident des Gemeinderaths bringen und – schon 3 oder 4 Tage später verbreitete sich das Gerücht, der berühmte Professor Kloß werde hier u. schon in den nächsten Wochen ein Bachconservator. ins Leben rufen. Der Stadtrath hatte ihm allerdings versprochen, im Falle des Gelingens zwei Freistellen zu beschaffen. Nun kam der Mann zu mir u. besprach mit mir den ganzen Plan, innere u. äußere Einrichtung u. da ging mir schon ein Licht auf, daß der Mann weder rein künstlerisch noch streng wissenschaftlich auf einer solchen Stufe der Bildung stand, als zur Leitung u. Belebung eines solchen Instituts nöthig ist. Bald überzeugte ich mich auch, daß es mit den mir versprochenen Geldmitteln u. noch mehr mit den Versprechungen seitens der Fürsten Könige etc. etc. gewaltig schlecht stehe. Er gab zwei Orgelconcerte u. nahm in beiden zusammengenommen nicht 5 Rth. ein. Dies brachte ihn wieder von Eisenach ab. Er meinte, ein solches Institut eigne sich doch nur für Weimar. Aus reinem Interesse für die Sache reiste ich mit Aufrägen von ihm nach Weimar7 um die Sache dort bei dem Ministerium pp. zu betreiben. Allein da war ich vor die rechte Schmiede gekommen. Da waren schon in Betreff dieser Angelegenheit Dinge vorgekommen, die zu erzählen ich noch 2 Bogen Papier brauchte. Kurz vom Ministerium, wie vom dem Stadtdirector Hase hört' ich nur8 eine Stimme: man wolle mit dem Hrn. Professor Kl. nichts zu thun haben.9 Ich theilte ihm Alles getraulich mit, u. es schien, als sei er zu der Uberzeugung gekommen, das Project könne unmöglich in Eisenach zur Ausführung kommen. So verließ er Eis. um in Elberfeld definitiv zu bestimmen, wo das Bachconservator. statthaben solle. Um so mehr waren wir alle erstaunt, ja erschrocken, als nach einigen Wochen hier ein großes gedrucktes Program einging, auf dem Sie, Hr. Kapellmeister! als Ehrendirector, dann meine Wenigkeit u. 2 andere Männer, Dr. Koch u. Dr. Wittich mit als zur Studiendirection gehörig aufgeführt standen10, mit dem ausdrücklichen Bemerken noch in seinem Briefe, daß nun das Bachconservat. definitiv für Eisenach erkoren sei, u. kurze Zeit darauf kam auch die Annonce von zwei Symphonie-Soireen im Verlaufe des Winters. Ich, wir alle11 waren erschrocken, weil keiner weder ich, noch Dr. Koch u. Wittich dem Prof. Kloß die Erlaubniß ertheilt hatten, einen derartigen Gebrauch von unsern Namen zu machen.12 War dadurch schon die Meinung rege geworden, es sein mit dem Prof. Kloß sowol als Mensch wie als Künstler gar nicht weit her13 u. gehe sein Bestreben nur dahin, irgendwo u. auf irgend welche Weise ein Unterkommen zu finden, so steigerte sich diese Ansicht zur Uberzeugung, als wir auch von Osnabrück aus die Nachricht erhielten, Hr. Prof. Kloß habe sich in Elberfeld vollständig blamirt u. mit seinen musikal. Productionen ganz u. gar Fiasco gemacht. Kurze Zeit darauf kam er selbst, – inzwischen war schon seine ganze Familie angelangt – erwähnte aber von Elberfeld nichts, u. als ihm unserer Seits stark zu Leibe gegangen wurde, nachzuweisen, wie es mit den Geldmitteln pp. stehe, reiste er plötzlich wieder ab u. – bis heute weiß kein Mensch wo er steckt. Nur vor einigen Wochen stand in mehreren Zeitungen, daß er bemüht sei, jetzt das Bachconservatorium in Erfurt zu etabliren. – So steht es mit der Geschichte. Muß man sie nicht, auch bei der humansten Gesinnung für eine pure Schwindelei erklären?
Es wäre mir recht gewesen, daß Kloß oder irgend ein Andrer der Gründer eines solchen Instituts geworden, wäre es nur14 auf die rechte Weise, auf15 der Würde, der Idee der Sache angemessene Weise geschehen. Aber das ist eben der Haken! Das ganze, gegenwärtige Künstlervolk ist, mit Ausnahme sehr weniger, ein Lumpenpack. Nicht einmal in der Kunst selbst haben sie sich ein gründliches Können u. Wissen angeeignet, geschweige daß es ihnen eingefallen wäre, es gehöre zu einem großen Künstler auch ein großer Mensch, ein großer Character. Nur einen einzigen kenne ich noch, in dem sich das Alles in einer wundervollen Harmonie vereinigt, u. das sind Sie selbst u. allein, mein verehrtester Meister. Je älter ich werde, je mehr ich mir des Lebens u. seiner Aufgabe bewusst werde, desto mehr sehe ich das ein. In Cassel unter Ihrer Aegide wollte ich bald ein Conservator. errichtet haben16,das Respect einflösen sollte. Allein – allein wer kann es außer Ihnen wagen, in Cassel zu existiren. Ich wenigstens mag nicht dort sein. – Auch in Weimar mag ich nicht leben aus den schon angeführten Gründen, obwol die Frau Großherzogin17, trotzdem daß ich so wol hier als in Weimar als Demokrat in keinem besonderen Geruch stehe, mich zu bemerken geruht haben, u. sich neben der Einsicht in meine neusten Orgel- u. Claviercompositionen auch die Dedication meines Oratoriums „Die Verklärung des Herrn“ erbeten u. Einleitungen getroffen, mich in Weimar zu placiren. Als ich aber bei Übersendung der Orgelcompositionen bemerkte, daß ich in theoretischer Beziehung eine solche Stufe musikalischer Bildung einzunehmen mir bewusst sei, die es nicht gestatte, mich irgend einem Künstler in Weimar zu subordiniren u. ferner nicht gestatte, andere Functionen zu übernehmen, denn als Director einer Lehranstalt, nenne man diese Conservatorium oder sonst wie, so sind alle weitern Schritte in der angedeuteten Weise unterblieben.
Ich muß also jetzt selbst Hand anlegen, ich muß das Gebäude selbst beginnen u. aufführen. Ich muß, weil die Zeit mit Blitzesschnelle vorübergeht u. ich, schon 42 Jahr alt, also über den Höhepunkt des männlichen Alters hinaus, nicht wissen kann, ob mir noch, besonders bei der gegenwärtig durch u. durch kranken Zeit, längere Zeit zu sein vergönnt ist. Ich muß, weil ich zu bestimmten Resultaten in der Wissenschaft der Musik (Compositionslehre) gekommen, die einen wesentlichen Fortschritt in dieser Hinsicht anbahnen u. ich die Überzeugung habe, daß es Pflicht ist, alles Gute, Wahre seinen Mitmenschen, zum Nutzen u. Frommen derselben, mittheilen zu müssen. Ich muß, weil es höchste Zeit ist, daß ich für meine u. meiner Frau Zukunft sorge, denn meine pecuniären Verhältnisse hier sind wirklich schimpflich. Wenn ich heute sterbe, da ist meine arme Frau18, die Noth u. Sorge19 nie kennen gelernt hat, eine – Bettelfrau. Ich muß endlich, weil ich mir bewusst bin, daß ich auch noch in rein practischer Hinsicht, als Componist noch etwas zu leisten vermag u. daher zu leisten die Pflicht habe.
Über das Wie, erlauben Sie mir wol, mein hochverehrtester Meister, der schon sehr bedeutenden Länge meines Briefes ungeachtet, noch einige Bemerkungen. Ich komme damit erst auf die Hauptsache, die mein Herz schon längst bewegt hat, u. worüber ich Ihnen schon lange habe Mittheilungen machen wollen. Ich erlaube mir, eine ergebenste Bitte an Sie richten, deren Erfüllung ich mich gewiß versichert halten darf, da Sie ja immer freundlich u. gütig gegen mich waren, u. was meinem Plane einen ungeheuren Vorschub leisten ja allein schon die hauptsächlichsten Schwierigkeiten beseitigen u. damit das Project gelingen machen würde.
Ich will nämlich zunächst frisch an die Gründung eines musikalischen Lehrinstituts, was mit der Zeit wol auch den Namen Conservatorium oder selbst Bachconservatorium erhalten kann, gehen, u. zu diesem Zweck mit beifolgender Annonce20 meinen Plan dem Publicum mittheilen.21 Um eben das Publicum zu überzeugen, daß das Wahrheit sei, was ich sage u. nicht auch Schwindelei, bedarf es des Zeugnisses eines Mannes, der über allen Übrigen als Künstler u. menschlicher Character erhaben dasteht. Und dies sind Sie nun allein, mein verehrtester Meister. Damit aber Sie selbst in den Stand gesetzt werden, ein Zeugniß über meine Leistungen in der Theorie abzugeben,
wollte ich zu Ostern (früher wird es wol schwerlich möglich sein) nach Cassel kommen u. Ihnen u, zwar auf diese Weise, daß ich einige Knaben (welche die ersten Vorkenntnisse der Musik haben, aber noch nichts von Theorie, Generalbaß pp. wissen dürften) in Ihrer Gegenwart, Ihrem Beisein unterrichte.22 Sechs bis 8 Stunden dürften vollständig ausreichend sein, Ihnen das Grundwesentliche meiner neuen Theorie, u.– worauf mir nicht minder etwas ankömmt – meine Fähigkeit u. Methode zu unterrichten darzulegen u. Sie au fait zu machen, ein gegründetes Urtheil über mich zu fällen. – Hätten Sie nichts dawieder, so könnten ja auch die beiden Bott's, Vater23 u. Sohn24 zugegen sein, aber außer diesen kein anderer mehr.
Das wäre nun das Eine, mein verehrtester Meister!
Ungemein würde nun dieser Plan in den Augen des Publicums unterstützt werden, wenn demselben eine größere Arbeit von mir vorgeführt werden könnte, u. was eignete sich dazu wol besser, als mein neues oder doch so gut als neues Oratorium „Die Verklärung des Herrn“. Dieses in Cassel unter Ihrer eigenen Direction zu einer öffentlichen großen Aufführung (mit Orchesterbegleitung) gebracht zu sehen,25 wäre das zweite, was ich als ergebenste Bitte Ihnen ans Herz zu legen mir erlaube. Gelänge dieses, u. Bott hat mir dazu früher schon Hoffnung gemacht, dann dürfte es mir wol auch durch Ihre gütige Vermittlung u. Fürsprache gelingen, daß dies mein Orator. in England, vielleicht in London, wo noch immer der meiste Sinn für das Große, Erhabene herrscht, zur26 Aufführung käme.27 – Ach, Gott! das wäre ein Triumph für mich u. gewährte mir zugleich eine kleine Rache an den Weimaranern für alle die Zurücksetzungen, die ich jahrelang erduldet habe. – Ich halte auch mein Orator. wie es jetzt vorliegt, in der That der Berücksichtigung nicht für unwerth. – Ach, mein verehrtester Meister! wenn Sie mir diese Bitte erfüllen wollten! ich wüsste nicht, wie ich Ihnen danken sollte. Wahrhaftig! mein Leben würde ich Ihnen mit Freuden zum Opfer bringen. Denn was ist das Leben, was ist es28 werth, ohne die Gedanken- u. Ideenwelt, die einen belebt u. bewegt, zur Erscheinung zu bringen? Welch andern Lebensgenuß gibt es für den großen Menschen? Und liegt dies außer allem Zweifel, welch größeres Unglück gibt es dann, als sich im Besitz gewisser Kräfte u. Fähigkeiten zu wissen, welche mancherlei schaffen könnten, was der Menschheit nicht ohne Nutzen u. Werth zu sein vermöchte, u. sie auf die jammerlichste Weise verkümmern lassen müssen. Doch das wissen Sie ja alles, mein theuerster Meister, Sie haben selbst ja u. in einer weit großartigeren Weise, als es mir jemals möglich werden wird, des Lebens u. Geistes Tiefen u. Höhen durchmessen, Sie wissen auch, daß es zuletzt noch ein menschlicher Hochgenuß ist, einem andern Geist die Bahnen zu lichten, daß auch er seine Bestimmung erfüllen u. somit sich selbst u. der göttlichen Idee zu genügen. Alles das erwägend u. wissend daß dies Alles in Ihrem Geiste früher aufgegangen ist, als bei tausend Andern schließe ich mit dem guten Vertrauen u. der Hoffnung den Brief, daß Sie meiner noch freundlichst gedenken, meinen Bitten ein geneigtes Gehör leihen u. die Länge meines Briefes entschuldigen. Mich Ihnen u. Ihrer Frau Gemahlin bestens empfehlend u. bald einiger Zeilen entgegensehend bin ich mit

wahrer Verehrung
ewig
Ihr
ganz ergebenster
F. Kühmstedt

Eisenach am 19t Januar
1852.


29Zur Beachtung
für Alle, welche sich der musikalischen Kunst
widmen wollen.

Motto:
Ehe man was Gutes macht,
Muß man es erst recht sicher kennen.
Göthe.

Nach einem mehr als 15jährigen, beinahe ausschließlichen Studium der Wissenschaft (Theorie) der Musik, zu dem mich einmal das reine Interesse am Erkennen überhaupt, dann aber das eigene, innere Bedürfniß antrieb, die musikalische Kunst nach Wesen, Zweck u. Gesetzen insbesondere u. im strengen Sinne des Wortes zu begreifen, um darauf zu einem bewussten, freien Schaffen zu gelangen, ist es mir nach meiner festen Überzeugung gelungen, den musikalischen Satz, d.i. den musikalischen Gedanken in seiner Leibhaftigkeit nach allen seinen Modificationen (in räumlicher und zeitlicher Hinsicht) aus Einem Grundgesetze, einem Principe entstehen, werden, organisch sich entwickeln zu lassen, somit gelungen, eine Theorie, eine Compositionslehre in Wahrheit, oder eine Kunst, in Tönen zu denken, wie ich meine Theorie nenne, aufstellen zu können: eine Theorie, die demnach nicht atomistisch, nicht einseitig practisch oder abstract theoretisch verfährt, deren Resultate nicht blos Aggregate sind, gewonnen durch ein principloses Zusammensetzen der Töne, sondern die sich als eine stufenweise Manifestation der der Kunst zum Grunde liegenden Idee selbst erweist (gleich der Lebensthätigkeit der Natur, die ebenfalls um z.B. einen Baum hervorzubringen, nicht erst Blätter, Zweige, Blüthen, Früchte pp. einzeln macht, nachher zusammensetzt u. zuletzt ihnen Leben einhaucht, sondern dies Alles mit einem Schlage in u. durch stufenweise Entfaltung eines Keim's zu Tage fördert) u. somit den Kunstjünger in den Stand setzt, sich des musikalischen Gedankens sowol nach seiner objectiven Seite d.h. so weit er von der organischen Entwicklung des Gedankens, also der in demselben waltenden Nothwendigkeit abhängig, als in30 subjectiver Hinsicht d.h. in wie fern er von dem naturnothwendigen Werden des Gedanken unabhängig zu sein, es frei zu einem von ihm gesetzten Zwecke zu modificiren vermag, zu bemächtigen und mit vollkommener Sicherheit und frei von jeder Autorität zu produciren.
Da diese Theorie, als systematische Darstellung der Verwirklichung der der musikalischen Kunst zum Grunde liegenden Idee nothwendig ein Begreifen der Musik vermittelt, das Begreifen aber in einem Erfassen der Einheit im Unterschied besteht, so daß mit der Erkenntniß der Musik zugleich auch die Kunst im Allgemeinen u. Besondern, das Wesen der Wissenschaft, u. zuhöchst das Sein und Werden als das Allgemeine, Ewige, die Ur-Idee, von welcher die in der Wissenschaft, dem Leben u. der Kunst pulsirenden Idee'n des Wahren, Guten u. Schönen nur ihre eigenen unterschiedenen Momente sind, erfasst werden, so leuchtet ein, daß weiter diese Theorie, eine wirkliche Erziehungslehre ist, daß sie den Kunstjünger nach allen ihrer in Betracht kommenden Seiten ausbildet u. zum Bewusstsein bringt. Und dies muß gegenwärtig alle Theorie der Kunst. Denn nimmer wird in unserer Zeit ein Künstler, wäre er auch mit dem größten Talent ausgestattet u. im Besitz der vollendetsten Technik, ein wahres Kunstwerk zu Tage fördern, ohne auf der Höhe des Zeitbewusstseins zu stehen, d.h. ohne den Kampf um Bewusstsein u. innere Selbständigkeit mitgekämpft u. in demselben festen Boden gewonnen zu haben und – ohne ein Mensch zu sein, dessen Leben in der Darlegung u. Darlebung der Idee des Wahren Guten und Schönen aufgeht.
Das sind jetzt mehr als jemals nothwendige Voraussetzungen u. Bedingungen jeder wahren künstlerischen Thätigkeit; denn die Kunst gehört, weil sie das Ewige u. Wesentliche zur Erscheinung bringen soll, zur sittlichen Bestimmung des Menschen.
Der Überzeugung lebend, daß es eines Jeden Pflicht ist, Gedanken, von deren Wahrheit er durchdrungen ist, nicht bei sich zu behalten, sondern mitzutheilen, erbiete ich mich, Allen, die sich ein gründliches Wissen und Können in der Musik aneignen wollen, die sich zu Componisten, Organisten, zu Lehrern der Composition auszubilden gedenken, gegen ein billiges Honorar Unterricht zu ertheilen. Außerdem habe ich Sorge getragen, daß jüngere Leute nöthigenfalls auch im Gesang und Clavierspiel gründlichen Unterricht erhalten können.
Zu weiteren Mittheilungen u. Erörterungen bin ich auf frankirte Anfragen gern bereit.
Schließlich muß ich noch bemerken, daß diese meine Intention mit der des Hrn. Professor Kloß in gar keiner Beziehung steht u. lediglich in sich selbst31 ihren Stützpunct hat.
FK.
E...

In Bezug auf mein Oratorium erlaube ich mir hier noch zu bemerken, verehrtetster Meister, daß es noch nicht im Druck erschienen ist, obgleich der Verleger Körner in Erfurt bereits vor 1¼ Jahren mit dem Stich begann. Der Grund liegt darin daß sich Körner, wie er sagt, durch das Werk von Radowitz: „neue Gespräche über Staat und Kirche“32 ausgebeutelt hat. Zu Ende dieses Jahres will er es aber sicher bringen.33 Es ist mir dies sogar lieb. Nur von außerordentlichem Werth würde es für mich sein, wenn es vorher erst, wie ich es im Brief ausgearbeitet habe, zur Aufführung käme.
FK.



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Spohr an Kühmstedt. Spohrs Antwortbrief ist derzeit ebenfalls verschollen.

[1] Hier handelt es sich vermutlich um ein (möglicherweise nicht zuletzt aufgrund der in diesem Brief folgenden vernichtenden Kritik Kühmstedts) unveröffentlicht gebliebenes Werk des Spohr-Schülers Johann Matthäus Bach.

[2] „auf“ über der Zeile eingefügt.

[3] Ausdruck in eckigen Klammern am Fuß der Seite eingefügt.

[4] „des Bachconservator.“ über der Zeile eingefügt.

[5] „sind“ über der Zeile eingefügt.

[6] Hier gestrichen: „so“.

[7] „Weimar“ über der Zeile eingefügt.

[8]„nur“ über der Zeile eingefügt.

[9] Vgl. „Dur und Moll“, in: Signale für die musikalische Welt 9 (1851), S. 70ff., hier S. 72; „Dur und Moll“, in: ebd., S. 75ff., hier S. 77, Y., „Signale aus Weimar“, in: ebd., S. 84-89, hier S. 87.

[10] Dieser Aufruf wurde mit dem Hinweis veröffentlicht, dass dieser Plan in Eisenach „dort wohl nichts werden wird“. („Johann Sebastian Bach-Denkmal“, in: Urania 9 (1852), 49-55; vgl. „Thüringen“, in: Allgemeine Zeitung <München> (1851), S. 4451f.; „Eisenach“, in: Pädagogische Revue 32 (1852), S. 88).

[11] „alle“ über der Zeile eingefügt.

[12] Demnach trifft die mit Verweis auf „die noch unveröffentlichten Briefe Kühmstedts an Spohr in der Kasseler Bibliothek“ getroffene Feststellung nicht zu: „Auch dem von K.J.Chr. Kloß unter Mitwirkung von Fr. Kühmstedt 1851 in Eisenach geplanten ,Akademischen Joh.-Sebastian-Bach-Conservatorium’ stellte sich Spohr bereitwillig als ,Ehrendirigent’ zur Verfügung“ (Herfried Homburg, „Louis Spohr und die Bach-Renaissance”, in: Bach-Jahrbuch 47 (1960), S. 65-82, hier S. 81).

[13] „her“ über der Zeile eingefügt.

[14] „nur“ über der Zeile eingefügt.

[15] Hinter „auf“ ein Buchstabe unleserlich gestrichen.

[16]„haben“ über der Zeile eingefügt.

[17] Maria Pawlowna.

[18] „Frau“ über der Zeile eingefügt.

[19] Hier gestrichen: „im“.

[20] Vgl. die in dieser Edition unten als Postscriptum angefügte Beilage dieses Briefs.

[21] Dieser Satz ist durch eine Anstreichung am Rand zusätzlich hervorgehoben.

[22] Dieser Satz ist ab „wollte ich zu Ostern“ durch eine Anstreichung am Rand zusätzlich hervorgehoben.

[23] Anton Bott.

[24] Jean Joseph Bott.

[25] Dieser erste Teil des Satzes ist durch eine weitere Anstreichung am Rand zusätzlich hervorgehoben.

[26] Gestrichen: „Af“.

[27] Der letzte Teil dieses Satzes (ab „dürfte“) ist durch eine weitere Anstreichung am Rand zusätzlich hervorgehoben.

[28] „es“ über der Zeile eingefügt.

[29] Der folgende Text steht auf einem anderen Briefpapier; es handelt sich aber offensichtlich um die von Kühmstedt angekündigte „Annonce“, der
er am Ende noch ein Postscriptum an Spohr hinzufügt.

[30] Hier gestrichen: „objectiver“.

[31] Hier gestrichen: „in“.

[32] Joseph Maria von Radowitz, Neue Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche, Erfurt 1851.

[33] Friedrich Kühmstedt, Die Verklärung des Herrn, Erfurt und Leipzig o.J.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (12.08.2020).