Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochgeehrter Herr Kapellmeister!

Wiederholt muß ich auf Ihre gütige Verzeihung Anspruch nehmen, schon wieder belästige ich Sie, da in1 nächster Zeit über meine junge(???) Zukunft entschieden wird, so darf ich kein Mittel versäumen, daß diese Entscheidung zu meinen Gunsten ausfalle. – Zur Bewerbung um das Mozart-Stipendium bin ich zugelassen, die Prüfungsarbeiten werden bald vollendet sein: die Komposition eines aufgegebenen Liedertextes und die eines Streichquartetts. Jener Text hat mir kein Interesse abgewinnen können, der ist nicht gut. Was ein Streichquartett anbelangt, so ist die Schwierigkeit um so größer, als ich nur Selbststudien gemacht habe, die paar Lektionen, die ich hier nehmen konnte, sind ein Tropfen im Meer. Herr Musikdirektor und Organist Mendel, unter dessen Aufsicht ich die Arbeiten zu fertigen habe, glaubt an denselben nicht corrigiren zu dürfen. Die Prüfungsarbeiten nun sollen nach den Statuten anonym und mit einem Motto den Preisrichtern eingereicht werden. Dadurch ist meine Lage schwieriger: es liegt auf der Hand, das jeder andere Bewerber, der die gleiche Befähigung besitzt wie ich, und eine Schule mit durch gemacht, mir vorgezogen werden wird, ja denselbe würde bei geringerer Befähigung doch im Vortheil sein, da die Erfahrung seines Lehrer ihm zur Hülfe kommt. Aus diesem Grunde will Herr Mendel, der sich sehr für mich zu interessiren scheint, ein eindringliches Schreiben an das Comitee in Frankfurt erlassen, worin er entschieden wünscht, man möge wegen meiner eigentlichen Lage nicht so strenge an den Statuten halten und den Preisrichtern Kenntniss meiner Verhältnisse geben.
Hochverehrter Herr Kapellmeister! ich bitte Sie ergebenst, mir Beistand in der Sache leisten zu wollen. Krank an Körper und Gemüth, weiß ich nicht, was anfangen, wenn die Bewerbung zu meinen Ungunsten ausfällt, daß ich dann nicht hier in Bern bleibe, wo man nichts lernt, ist bestimmt. Aber wohin? wo wird sich ein Meister des Armen, Unvermögenden annehmen? Meine Jugend kann ich nicht zurückrufen, und das Alter rückt näher, immer näher. Es ist zum Verzweifeln.
Verzeihen Sie mir!

In tiefster Verehrung
ergebenst
G. Lotzgesell.

P.S. Bis Ende Sept. müssen die Arbeiten eingeschickt sein.

Bern im Sept. 51

Autor(en): Lotzgesell, Georg
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Mendel, Johann Jacob
Erwähnte Kompositionen: Lotzgesell, Georg : Lieder
Lotzgesell, Georg : Quartette, Vl 1 2 Va Vc
Erwähnte Orte: Bern
Erwähnte Institutionen: Mozartstiftung <Frankfurt am Main>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1851091544

Spohr



Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Lotzgesell an Spohr, Anfang Juni 1852.

[1] Hier gestrichen: „b“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (13.07.2023).