Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Abschrift 1: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. 1.9 <Scheler 18510222>
Abschrift 2: Landesbibliothek Coburg (D-Cl), Sign. PM-VII/III,24
Sr. Wohlgebohren
Herrn Louis Spohr
S. T.(???) Kurfürstl. General-Musikdirector pp
Kassel.
frei.1
Hochverehrter, theurer Herr!
Kaum werden Sie nach 30 Jahren sich noch erinnern, wie Sie mich und meine Mutter in Coburg besuchten und mir erlaubten, Sie nach Hildburghausen zu begleiten.2 Mir blieben jene Momente nicht nur in theurer Erinnerung, sondern sie waren entscheidend für meine Bildung; ich lernte zuerst den Werth höchster Kunstleistung ahnen und nicht weniger wirkte das Vorbild edler Männlichkeit auf mich ein, zu dem ich freudig aufblickte.
Verehrter Herr! Einen schweren Lebenskampf bestand ich in diesen 30 Jahren. 20 Jahre brachte ich in einem sehr bewegten Geschäftsleben als Stadtgerichtsrath bei dem Magistrat zu, und meine Gesundheit erlag der übermäßigen Anstrengung, da ich lange Zeit drei Stellen zu versehen hatte und die kampfvollsten Verhältnisse äußerste Kraft in Anspruch nahmen. Da wurde ich im Magistrat in die Stände gewählt und nahm nach 7 Monaten, weil meine Pflicht mir nicht erlaubte, der ungesetzlichen Versammlung länger anzugehören, meine Entlassung.
Eine neue Lebensaufgabe wurde mir durch mein Verhältnis zu Friedrich Rückert.3 Es galt, die in seinen Werken für die Jugend und ihre Lehrer enthaltenen Schätze daraus zu entnehmen, sie als ein poetisches Ganzes zu binden und somit den Sinn für reine Elementargestalten und ächte Symbolik zu wecken und zu bilden. Das Werk war mit unendlichen Schwierigkeiten verknüpft, die Aufgabe, sich in ein höheres Leben hinein zu leben, und das selbe in gewißer Beziehung zu regeneriren, war größer noch, als ich erwartet habe und konnte nur durch Zurückgehen auf die Evangelien und die Griechenwelt gelöst werden. Es gelang endlich und Rückert selbst erklärte, daß das Ganze in einer Tiefe erfaßt, in einer Reinheit gestaltet sei, wie es nur Menschenkraft vermöge.
Nun war die Einführung in die poetischen Formen zu bewirken, aber nirgends ein Halt in deren Theorie aufzufinden, ich mußte wieder zurückgehen auf die Griechen und hier gelang es mir nach jahrelangen Forschungen, die von den unsrigen verschiedenen Taktarten der Griechen zu erkennen, die Grundgesetze der griechischen Metrik in ihrem Wesen zu erfassen, durch musikalische Darstellung der reinen, durch Ausscheidung der unächten Elemente die Metren zum stimmenden Verhälftnisse und die bisher schwebende und schwankende griechische Metrik zur wissenschaftlichen Evidenz zu erheben und zugleich so großartige Formen herauszustellen, als man wohl nie in Dichterwerken verborgen geahnt haben mag.
Im Frühjahr 1849 begab ich mich nach Berlin, um mit Benutzung der Bibliothek mein Werk zum Abschluß zu bringen und vom König oder der Regierung Entschädigung und Belohnung zu erhalten. Ich fand Anerkennung bei sämtlichen Ministerialräthen und mehreren Akademikern, und Tieck sprach aus, das nun erst Schauspieler würdig gebildet werden könnten, daß mir eine Nationalbelohnung gebühre, aber Alexander von Humboldt hatte im Voraus gegen meinen Herzog erklärt, daß jetzt der Moment nicht sei, indem etwas erhebliches für neue Entdeckungen geschiehen könne, und, wiewohl er mir Anerkennung und Achtung bezeigte, schien es doch rathsam, einen günstigern Moment zuerwarten und ich fand für gut, zunächst meine Untersuchungen auch bis auf die Neuzeit fortzuführen.
Da traf mich ein Schlaganfall und nöthigte mich, im Herbst 1849 hieher nach Ilmenau in die Wasserheilanstalt zu gehen, wo ich mich 8 Wochen der Kur hingab, dann aber nur durch Wasser einigermaßen aufrecht zu erhalten suchte, um meine Aufgabe zu lösen und die Entdeckungen zu vollenden, die zugleich meiner Familie eine gesichterte, glückliche Zukunft gewähren könnten. Unter allem Druck der Krankheit gab mir Gott reichen Segen. Die von den Griechen auch in der Musik angewandten Tactarten in welchen der Rhythmus weit selbständiger und bedeutender hervortritt, welcher somit auch die Musik und Tanzkunst neue Gebiete eröffnen werden, sind nun in den poetischen Erzeugnißen aller Völker nachgewiesen; die eigentliche Brücke aber ist gebaut von Homer zu Göthe, von Pindar zu Mozart, und für die poetische Rede sowohl als für die Musik und die Verbindung beider ist eine wissenschaftliche Basis errungen durch Entdeckung der von den Meistern der Dichtkunst und Musik zwar gleichmäßig in hoher Vollkommenheit dargestellten, aber ihren Gesetzen nachunerkannten Rhythmengeschlechter. Ich habe ferner ein neues Grundgesetz aufgefunden, welches den eigensten, ich möchte sagen, geistigen und schaffenden Charakter jeder Zahl erschließt, dem sie in allen Verhältnissen und Verbindungen bewahrt und geltende macht, ich habe eine bis jetzt ganz unbekannte Art der Zahlenbeziehung resp. Verwandtschaft (ein neues Grundverhältniß4 neben den Summen, Produkten und5 Potenzen) erkannt und nachgewiesen und habe den Schlüssel gefunden, durch den das innerste Wesen der Musik, auch der Melodie und harmonie erschlossen und zu klarer wissenschaftlicher Erkenntniß gebracht wird.
Hieraus geht die bisher vergeblich gesuchte reine Stimmung der Instrumente hervor, jedem Ton wird sein innerstes Wesen klar bezeichnet, für jede Tonleiter und Tonverbindung die musikalische Idee nachgewiesen, welche sie darstellt. Jedes musikalische Kunstwerk kann leicht, bestimmt und klar in seiner Totalität aufgefaßt, in jeder Einzelheit erwogen, und mit den ewigen, in der ganzen Weltpoesie gleichmäßig sich kundgebenden Ideen in Verbindung gebracht werden.
Die Anwendung auf den deutschen und englischen Choralgesang auf Volksgesänge, auf Melodien und Harmonien Luthers, Bachs, Hayden Beethovens, Mendelssohns pp ist durchgeführt, und wie werde ich mich freuen, wenn Sie die Vergleichung der Melodie des herrlichen „Jerusalem, du hoch gebaute Stadt,“ in seiner reinen Fassung mit anderen Kunstwerken,6 Ihrer Komposition des Wiegenlieds7 mit der Weberischen, Ihres Göthischen Liedes „Ich hab‘ mein Sach‘ auf Nichts gestellt“8 mit der Strophe der ersten Ode Pindars, deren Rhythmen in ihrer Totalität ganz denselben musikalischen Grundgedanken darstellen, wie Ihre Melodie, zu billigen geneigt sein werden.
Nächstdem aber handelt es sich noch um Mehreres. Auf sicherer Basis sind neue melodische Töne und Tonverbindungen erweckt und nachgewiesen, die Verhältnisse der Instrumente dafür bezeichnet, und hieraus können mir bedeutende Vortheile erwachsen. Alles gründet sich auf feste Noten und Zahlen, die gleichen Grundgedanken in allen musikalischen und poetischen Kunstwirken entsprechen und mit den anerkannten psysikalischen Gesetzen, die sie jedoch näher bestimmen und begründen und dadurch erst anwendbar machen, vollkommen harmoniren.
Soweit, hochverehrter Herr, bin ich nun trotz schwerer Krankheitshemmung gelangt, das alle Resultate in ihrem Detail vorliegen, und ein einziger Tag, ja ein nicht zu kurzer Abend hinreicht, einem Hohen Meister der Kunst das Ganze mit solcher Klarheit zu entwickeln und so vollständig vorzutragen, daß dadurch in Verbindung mit meinen Papieren andere Entdeckungen in Ihrem ganzen Umfange gesichtert und meiner Familie Entschädigung unendlicher Opfer, eines baaren Aufwandes von mehr als 6000 Thalern und eines schweren Lebenskampfes gewährt werden können, – ja daß, so Gott über mich gebieten sollte, das Werk meines Berufs dann als vollendet betrachten kann, wenn mir noch das Glück Ihrer Gegenwart zu Theil werden sollte. Ich bedarf eines Beweis; ohne diese Gunst möchte vieles gefährdet sein. Denn darin äußert sich mein Krankheitszustand, wohl infolge früherer Anstrengung und der langen energischen Vertiefung, auf eine sehr beengende Weise, daß mir die Fassung jeder Einleitung, jedes demonstrirenden Abschlusses und jeder Brief zur schwierigen nur mit großen Nachtheilen zu lösenden Aufgabe, ja oft geraume Zeit zur gänzlichen Unmöglichkeit wird, [während ich einem kundigen und empfänglichen Geiste gegenüber das alles jederzeit klar, präcis und mit Lebensfrische auszusprechen vermag]9, weshalb Sie auch diesen, schon länger vorbereiteten Brief vom fremder Hand geschrieben erhalten.
Und nicht nur die Sicherung der Ergebnisse meiner Entdeckungen, um die ich sehr ängstlich bin, da ich drei Wochen an der Rose gelitten habe und mir im Hinblick auf meinen Schlaganfall ein Fußgeschwulst Besorgnis erregt – jedoch sie vorzugsweise ist es, die mich zu der großen, unbescheidenen Bitte um Ihre Hieherkunft bestimmt.
Der Blick des Genius, des edlen erfahrnen Mannes ist entscheidend, die Besprechung über die Art der Geltendmachung, besonders in England, wo mir Prinz Albert Beweise der huldvollsten Gesinnung gegeben hat, ist mir heilbringend, Ihre Anerkennung belebend, Ihre Empfehlung hülfreich. Keinem Andern kann ich mich anvertrauen, keinen Augenblick darf ich mit weiteren Vorschritten säumen. Verzeihen Sie daher, theurer hochverehrtester Herr, die dreiste gewagte Bitte, mir, sobald Sie es möglichmachen können, Ihre Gegenwart zu schenken. In den Beilagen10, deren Überreichung Sie ja nicht als Unbescheidenheit, sondern als notwendigen, wenn auch unzureichenden Beleg zur Unterstützung meiner Bitte geneigtest, bitte aber, so wie überhaupt von meinen Mittheilungen, nichts gegen Dritte zu erwähnen.
Berücksichtigen Sie, hochverehrter Herr, zugleich die nahe Verwandtschaft und das Ihnen bekannte bewährte Freundschaftsverhältniß meines Vaters zu Ihrer Frau Schwiegermutter, erhalten mir Ihr Wohlwollen und lassen mich geneigte Gewährung hoffen durch die sie mich zur innigsten bleibenden Dankbarkeit verpflichten werden.
Mit innigster Verehrung u. Ergebenheit
ganz der Ihrige
Ferdinand Scheler
Ilmenau
am 22sten Februar
1851.
Addr. StGRath11 Scheler von Coburg
d. Z.12 zu
Ilmenau
bei Sattler Gelhorn(?)
Autor(en): | Scheler, Ferdinand |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Albert Großbritannien, Prinzgemahl Ernst II. Sachsen-Coburg und Gotha, Herzog Humboldt, Alexander von Rückert, Friedrich Tieck, Ludwig |
Erwähnte Kompositionen: | Spohr, Louis : Lieder, Singst Kl, op. 41 Spohr, Louis : Lieder, Sopr Klar Kl, op. 103 |
Erwähnte Orte: | Coburg Hildburghausen Ilmenau |
Erwähnte Institutionen: | |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1851022247 |
Spohr beantwortete diesen Brief am 26.02.1851.
[1] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts in der Mitte der Poststempel „[I]lmenau / 24 FEB [1]851“, auf der Rückseite des gefalteten Briefs der Stempel „[???] / 25/2“.
[2] Zu Spohrs Hildburghausenaufenthalt 1821 vgl. „Hildburghausen“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 23 (1821), Sp. 649ff, hier Sp. 650.
[3] Vgl. C[onrad] Beyer, Friedrich Rückert. Ein biographisches Denkmal, Frankfurt am Main 1868, S. 184-187.
[4] „verhältniß“ über gestrichenem „gesetz“ eingefügt.
[5] Hier gestrichen: „Verhältnisse“.
[6] „in seiner reinen Fassung mit anderen Kunstwerken,“ über der Zeile eingefügt.
[7] Op. 103.4.
[8] Op. 41.6.
[9] Ausdruck in Klammern über der Zeile eingefügt.
[10] (Teil-)Abschriften von Briefen an und Zeugnissen für Scheler sowie Auszüge aus offiziellen Berichten.
[11] Abk. f. „Stadtgerichtsrath“.
[12] Abk. f. „dieser Zeit“(?).
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (17.12.2021).