Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochverehrter Herr!

Entschuldigen Sie gütigst, wenn ich es wage, Ihnen mit einer vertrauungsvollen Bitte zu nahen; mir Ihren hohen, geehrten Rath und Beistand, wie einige Augenblicke Ihre Aufmerksamkeit hochgeneigt zu gewähren.
Mein Mann war Cantor an der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis zu Wolfenbüttel und starb, auch ein Raub jener schrecklichen Krankheit, der Cholera, welche im letztverflossenen Sommer verheerend in unserer Stadt ausgebrochen. Sein ganzes irdisches Dasein war der schönen Tonkunst geweiht; nur in den letzten Jahren seines Lebens hatte er die erledigte Stelle eines Kirchenbuchführers an genannter Kirche übernommen1, welche Stelle ihm die Aussicht eines gesicherten Lebensunterhaltes seiner Familie und Befreiung der, durch frühere harte Familienschicksale herbeigeführten Lasten, gab. Ach, unter den vielen Opfern, welcher er freudig den Seinigen brachte, war dieses das schwerste. Nur in den Tönen konnte er leben, und die neue Beschäftigung ließ ihm so wenig Muße, für die theure Kunst noch im Stillen zu wirken, übrig. Oft, gar oft trug ihn die Erinnerung voll glühender Sehnsucht und Wehmuth in die Zeit seiner musikalischen Wirksamkeit zurück. Voll Verehrung und begeisterter Liebe gedachte er der großen Meister; dann sagte er wohl, (wenn ich es sagen darf, die durch aufrichtige Dankbarkeit hervorgerufenen Worte des Verstorbenen hier anzuführen) Sie sind alle todt, Haydn, Mozart, Weber, Kreuzer, Bach, Rinck, dessen Schüler ich mich nenne im Orgelspiel, Beethoven – aber er lebt noch, Meister Spohr, der gute, herrliche Spohr! setzte er heitrer hinzu, einen Brief2 desselben zur Hand nehmend, den er mit dankbarer Liebe stets aufbewahrt hatte. Der große Mann, sagte er weiter, verschmäht meine kleine Arbeit nicht, möchte sie eine Welt nun verachten. Freunde konnten mich in den Tagen der Trübsal verlassen; ich floh zu ihm, er nahm mich freundlich auf, ich war noch nicht verlassen; Gott segne ihn dafür. – Hochverehrter Herr! Dem großen Meister kommen wohl viele im Leben vor, welche bei ihm Trost, Rath und Hülfe suchen; er mag der Bittenden leichter vergessen, denn diese ihn. Vor Annahme jener Stelle glaubte mein verstorbener Mann noch im Auslande ein Asyl zu finden, wo er für die schöne Kunst wirken könne. Er hatte sich die Freiheit erlaubt, Ihnen einen Probe seiner musikalischen Fähigkeit mit der Bitte zu übersenden, wenn solche Ihre Zufriedenheit finde, ihm zu seinem Vorhaben behülflich zu sein.3 Und er durfte sich Ihres günstigen Vortheils darüber erfreuen, Ihres hohen Rathes, wie der tröstenden Worte, seiner zu gedenken. Ja, recht dunkel war damals der Lebenshimmel des nun Entschlafenen; aber wie das schwarze Gewölk die goldene Sonne durchbricht, strahlen Ihre Worte erhebend und friedbringend in seines Schicksals Nacht; wie der Vöglein Lied im Wald, fanden sie ein langes, ewiges Echo in seiner Brust. Mit dem großen Vertrauen des Todten nahe ich mich; o schenken Sie jetzt der Witwe Ihren hohen Rath und Beistand auch. Mein verstorbener Mann hatte Alles für die Seinigen gethan, was nur in seinen Kräften gestanden; doch des Künstlers Schätze sind nicht von dieser Welt. Es giebt menschenfreundliche Gemüther; doch das verhängnisvolle Schicksal hat viele Unglückliche gemacht. Meine inständige Bitte, welche ich zu Ihrem edlen Herzen erhebe, ist die, ob Ihnen nicht vielleicht eine Künstlercasse bekannt wäre, aus welcher ich eine kleine Unterstützung für mich und meine vier unversorgten Kinder hoffen könne? Wohl weiß ich, daß Jemand Beiträge zu einer Casse geliefert haben muss, wenn die Seinigen eine Unterstützung hoffen dürfen; aber mit des großen Meisters hoher, gütiger Fürsprache glaube ich, daß meine Hoffnung nicht untergehen könne. Möchte meine Bitte, welche die Zuversicht zu Ihrer nachsichtsvollen, freundlichen Gesinnung mich aussprechen ließ, Verzeihung und wenn möglich, Gewährung finden! –
Einer hochgeneigten Antwort entgegensehen, zeichnet mit der größten Hochachtung und Dankbarkeit,
ergebenst,

Julie Lohmann, Witwe
des weiland Cantors
JHD. Lohmann an der
Hauptkirche B.M.V.

Wolfenbüttel, den 20sten Jan.
1851.

Autor(en): Lohmann, Julie
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Beethoven, Ludwig van
Haydn, Joseph
Kreutzer, Conradin
Lohmann, Johann Heinrich Daniel
Mozart, Wolfgang Amadeus
Rinck, Christian Heinrich
Weber, Carl Maria von
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: Wolfenbüttel
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1851012047

Spohr



Spohrs Antwortbrief ist derzeit verschollen.

[1] Vgl. Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel (D-Wa), Best. 34 N Nr. 7196 [Anstellung des bisherigen Kantors an der Hauptkirche BMV Johann Heinrich Daniel Lohmann als Nachfolger für den verstorbenen Opfermann Johann Jakob Matthias Becker und die ihm provisorisch übertragene Kirchenbuchführung].

[2] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

[3] Dieser Brief ist derzeit verschollen.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (11.07.2023).