Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: La Mara (= Pseud. für Marie Lipsius), Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892, S. 144ff.
Inhaltsangabe: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einem Exzerpt von Franz Uhlendorff

Cassel den 9ten Januar 1851.

Geehrter Freund,

[...] Die Bittschrift1 an den Kurfürst habe ich sogleich nach seiner Rückkehr hieher, an den Intendanten des Theaters, Herrn von Heringen abgegeben, und ihn gebeten, sie zu befürworten. Ob es von Wirkung seyn wird, muß nun der Erfolg lehren.
Drei Quartett-Soiréen zum Besten unserer Wittwenkasse haben stattgefunden, viele Theilnahme erregt und sind auch zahlreich, besonders von den fremden Officiren, besucht worden. Die vierte, die wir vor der Rückkehr des Kurfürsten nicht mehr geben konnten, wagen wir nun nicht mehr anzukündigen, weil er im Stande wäre, die darin Mitwirkenden ihres Dienstes zu entsetzen, wie er in einem Rescript gedroht hat. Es bleibt uns daher nichts übrig, als die Abonnenten dadurch zu entschädigen, daß wir sie den Betrag dafür an dem Abonnement zu unsern Winterconcerten, die nun noch gegeben werden sollen, abziehen lassen. — Wie wir jetzt mit Ein- und Bequartirung gedrangsalt werden, davon hat man auswärts wohl keinen Begriff. Es ist völlig empörend zu sehen, wie die Ehrenmänner durch eingelegte rohe Soldaten so lange gepeinigt werden, bis sie Gesetz und Eid brechen! Auch Leute die längst aus dem Staatsdienst getreten sind und daher bey dem Conflikte gar nicht betheiligt waren, wie z. B. mein Schwiegervater2, sind bequartirt worden, wie die Hallunken es nennen. Es trifft ausschließlich nur Ehrenmänner, daß solche, die man überging, sich beleidigt und an ihrer Ehre gekränkt fühlen, und die Bequartirung verlangen.3 — Da ich weiß wie ich bey dem Kurfürsten angeschrieben bin, so hat es mich sehr überrascht, keine bekommen zu haben. Als Hauseigenthümer habe ich übrigens Einquartirung genug gehabt und habe sie noch, und da ich sie nicht ins Haus nehmen kann, sondern in ein Wirthshaus schicken muß, so kostet sie große Summen.
Mehr noch als die Bequartirung empört die rohe Weise, mit der man alle unsere Märzerrungenschaften antastet, das Schließen aller Vereine (wir sind nicht sicher, daß auch noch der Cäcilienverein verboten wird), das Wegnehmen aller Zeitungen, mit Ausnahme des Obermüller'schen Schandblattes4, und das Spioniren nach freimüthigen Äußerungen, um die Betreffenden vor das Kriegsgericht zu stellen! Die Empörung ist aber auch, selbst bey den Gemäßigtsten, so groß, daß, sollte es einmal wieder losbrechen, wir fürchterliche Scenen erleben werden!
Um das Unglück des Landes wenigstens dann und wann zu vergessen, habe ich wieder zu komponiren begonnen. Im letzten Quartett bey Fr. von Malsburg spielte ich ein neues Quintett, (das 7te) und jetzt arbeite ich an neuen Salonstücken.
An Ihre liebe Frau unsere herzlichsten Grüße. Mit wahrer Freundschaft ganz der

Ihrige
Spohr.

N.S. Ein Enthusiast in Königsberg, mit dem ich in Correspondenz stehe sammelt Handschriften von Künstlern. Er quält mich ihm welche von Gluck, Weber, Beethoven, Meyerbeer, Liszt und Franz Schubert zu verschaffen.5 Ich habe von allen diesen nichts. Haben Sie vieleicht von einem oder dem andern, was Sie missen könnten?



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 08.12.1850. Der nächste belegte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 19.03.1851.
Die Inhaltsangabe von Uhlendorff bestätigt den überlieferten Text: „U.a. über die Einquartierung von ,Strafbayern‘; 6 Salonstücke für Violine und Klavier op. 145 seien in Arbeit“.

[1] Aus Spohr an Hauptmann, 19.03.1851 und Spohr an Robert Schumann, 13.09.1850 könnte gefolgert werden, dass es sich um eine Bitte zur Aufführung von Schumanns Genoveva handelt.

[2] Burchard Wilhelm Pfeiffer.

[3] Am 26.10.1850, also zwei Tage nach Spohrs letztem Brief an Hesse, beschloss der Deutsche Bund im Kurhessischen Verfassungsstreit eine Bundesintervention. Am 01.11.1850 überschritten bayerische und österreichische Truppen die kurhessische Grenze, am 22.12. rückten sie auch in Kassel ein (vgl. Rüdiger Ham, Bundesintervention und Verfassungsrevision. Der Deutsche Bund und die kurhessische Verfassungsfrage 1850/52 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 138), Darmstadt und Marburg 2004, S. 204f. und 230). Die Bundestruppen bestraften oppositionelle Staatsdiener durch Zwangseinquartierungen von Soldaten (Vgl. ebd., S. 230 und 233; Louis Spohr, Louis Spohr’s Selbst-Biographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 343f.).

[4] Die erste regelmäßige Nummer der von der kurhessischen Regierung abhängigen Casseler Zeitung von Wilhelm Obermüller erschien erst am 01.01.1851 (vgl. Andreas Gebhard, „,Die Censur ist todt – es lebe die Preßfreiheit‛“, in: ders. und Karl-Heinz Nickel, „… mit der Fackel der Öffentlichkeit“. Revolution und Politik im Spiegel Kasseler Zeitungen von 1848 bis 1850, Kassel 2000, S. 30-47, hier S. 45)

[5] [Ergänzung 18.08.2017: Vgl. David Minden an Spohr, 27.12.1850.]

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (24.01.2017).