Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. N.Mus.ep. 2747
Druck 1: Autographen: Literatur und Wissenschaft, Goethe und Schiller, Musik und Kunst, Geschichte und Politik. Teile der Sammlung Oskar Ulex, Sammlung C***, Sammlung Holleben. Versteigerung 27. und 28. Mai 1927 (= Katalog Henrici 120), Berlin 1927, S. 115 (teilweise)
Druck 2: Herfried Homburg, „Politische Äußerungen Louis Spohrs. Ein Beitrag zur Opposition Kasseler Künstler während der kurhessischen Verfassungskämpfe“, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 75/76 (1964/65), S. 545-568, hier S. 564 (teilweise)

Sr. Wohlgeb.
Dem Herrn Organist
J.F. Schwenke
in
Hamburg.

frei.


Cassel den 4ten Januar
1851.

Geehrter Herr u. Freund,

Recht sehr habe ich mich gefreuet, einmal wieder eine Zuschrift von Ihnen zu erhalten, so wie über alle die freundlichen Anerbiethungen, die sie enthält. Ich glaubte aber, es sey Ihnen längst bekannt, daß ich außer der Ferienzeit, wo unser Theater geschlossen ist, nie von hier fort kann und daß mir stets der Urlaub, mit sehr wenigen Ausnahmen, zu Reisen in einer andern Jahreszeit hartnäckig verweigert worden ist. Auch glaubte ich, Sie müßten wissen, daß ich schon seit länger als 25 Jahren es aufgegeben habe, Concerte auf eigene Rechnung zu geben, und daß ich nur dann und wann in Deutschland und England Musikfeste oder andere große Musikaufführungen dirigirt und in Concerten zu wohlthätigen Zwecken als Solospieler aufgetreten bin. Würde ich daher Hamburg besuchen, was ich mir allerdings längst vorgenommen habe, so wäre es nur, um meine alten dortigen Freunde einmal wieder zu sehen und das neue, aus der Asche wiedererstandene prächtige Hamburg kennen zu lernen. Auch würde ich sehr gerne1 in Privatgesellschaften meine neuen Kompositionen, bestehend in Quartetten2, Quintetten3, Claviertrios4 u. dergl. vortragen, da ich als Geiger mich möglichst im Zuge zu erhalten gesucht habe. – Doch habe ich für nächsten Sommer eine andere Reise projektirt, nämlich nach Mailand und Venedig. Zu einer so weiten Ausflucht gehört aber, daß es ruhig bleibt, und bey der reactionären Rückkehr zu der alten Despotie ist dieß kaum zu hoffen und zu wünschen. Sollten daher neue Revolutionen ausbrechen, so werde ich auf solche große Reise verzichten müssen und dann würde zu einer kleineren Ausflucht mich nichts so sehr anziehen als Hamburg. Ich geben daher die Hoffnung noch nicht auf, Sie im nächsten Sommer zu sehen.5
Für Ihre freundlichen Wünsche zum Neuen Jahr, die wir auf das herzlichsten erwiedern meinen besten Dank! Seit ich lebe, habe ich noch kein traurigeres Neujahrsfest erlebt. Nach dem herrlichen Aufschwung, den die deutsche Nazion im Jahre 48 genommen hatte, ist dieses Niedertreten alles Gesetzes und Rechts wie wir es hier in Hessen erleben, völlig unerträglich! Gerade am Neujahrsmorgen während der Kirche wurde den 600 pflicht- und eidgetreuen Staatsdienern und Richtern die Executions-Einquartirung eingelegt.6 Andere brutale Maaßregeln wie z.B. das Wegnehmen aller Zeitungen in den Kaffehäusern, folgten, und so erfahren wir jetzt nicht einmal was auswärts geschieht. – Doch kann man dergleichen nicht schreiben, ohne daß man sich von neuem ärgert, und so schließe ich lieber.
An die liebe Ihrigen die herzlichsten Grüße. Mit wahrer Freundschaft stets ganz

der Ihrige
Louis Spohr

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Schwencke, Johann Friedrich
Erwähnte Personen:
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Quartette, Vl 1 2 Va Vc, op. 141
Spohr, Louis : Quintette, Vl 1 2 Va 1 2 Vc, op. 144
Spohr, Louis : Trios, Vl Vc Kl, op. 142
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1851010413

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Schwencke an Spohr, 29.12.1850. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Schwencke an Spohr, 05.04.1852.

[1] „gerne“ über der Zeile eingefügt.

[2] Hier ist vermutlich das 1849 entstandene Streichquartett in C-Dur op. 141 gemeint.

[3] Hier ist vermutlich das 1850 entstandene Streichquintett in g-Moll op. 144 gemeint.

[4] Hier ist vermutlich das 1849 entstandene Klaviertrio in g-Moll op. 142 gemeint.

[5] Stattdesssen reiste Spohr im Sommer 1851 doch in die Schweiz und nach Italien.

[6] Am 01.11.1850 überschritten bayerische und österreichische Truppen die kurhessische Grenze, am 22.12. rückten sie auch in Kassel ein (vgl. Rüdiger Ham, Bundesintervention und Verfassungsrevision. Der Deutsche Bund und die kurhessische Verfassungsfrage 1850/52 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 138), Darmstadt und Marburg 2004, S. 204f. und 230). Die Bundestruppen bestraften oppositionelle Staatsdiener durch Zwangseinquartierungen von Soldaten (Vgl. ebd., S. 230 und 233; Louis Spohr, Louis Spohr’s Selbst-Biographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 343f.).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (07.12.2018).