Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochgeehrter Herr Hofkapellmeister
und Ritter!

Sie haben bei der großen Verehrung, welche ich stets für Sie gehegt, durch die gütige Uebersendung Ihrer werthen Zuschrift und durch die so geistvolle Musik-Beilage mir eine wahrhafte Weihnachtsfreude bereitet; in Folge davon es mir Bedürfniß ist, Ihnen hierfür noch einen ganz besonderen Dank abzustatten.
Diese jugendlich frische Handschrift, diese schön geformten Buchstaben deuten auf ein eben so wohl [???]istes Gemüth, welches nicht den Lebensstürmen erlag und den schöpferisch großen Genius ein früher – auch jetzt noch in sich birgt; Sie erklären mir jenen immensen Suceß(?), welchen Ihr Violinspiel kürzlich nun wieder in Leipzig (der Metropole deutscher Musik) gefeiert1 und durch seine fortdauernde Classizität die moderne-geschmacklose Richtung ruhmvoll besiegt hat. - Es ist ein für die Welt dankenswerthes Geschenk des Himmels, daß selbt Ihre späteren Lebensjahre (wie selten) auch der Kunst noch so günstig sind und zur Vollendung Ihres ruhmgekrönten Sein‘s ohne Unterlaß beitragen!
Ihre nie versiegende Schöpfungsgabe hat für „das Königin-Theater zu London“ noch in diesem Herbste (wie ich gelesen) wieder Neues dargebracht2; und es ist bedauerlich, daß besonders wir in unserem langsam fortschreitenden Königsberg)3 außer der vierten, herrlichen Symponie „die Weihe der Töne“ in lezterer Zeit von Ihrer Muse nichts gehört haben! Auch die klassischen Musiken „die lezten Dinge“ u. „die lezten Stunden des Erlösers“ konnten wir hier nie so genießen, als sie anderer Orten durch großartiges Zusammenwirken dargeboten wurden.
Vom höchsten Interesse wäre es, aus Ihren geweihten(?) Munde, hochgeehrter Herr Hofkapellmeister! ein Urtheil über die Bestrebungen der „modernen Musik“ in Deutschland zu hören. Es ist schade, daß solche Autorität bescheiden zurückhält und nicht manchmal zurechtweisend und besonders hervortritt. Nur einer solchen Persönlichkeit als der Ihrigen, welche sich stets klassisch, deutsch festgebildet,4 bemüht hat und zum höchsten Gipfel auf den verschiedenartigsten Feldern der Musik emporgeschwungen hat, nur einer solchen größe gegenüber würde der sein Recht fordernde Zeitgeist weichen.
Der ächt deutsche Gesang, wie ihn die Meister Ihrer Periode der Nation geschenkt, wird jetzt leider nicht mehr gespendet u. wir müssen uns mit einem Mischmasch des Geschmackes für den Augenblick wenigstens zufrieden geben. - Wie herrlich Ihr „Faust“; wie unübertroffen „Jessonda“; wie tief gefühlt „Zemire und Azor“.
Ob Richard Wagner (Lohengrin) u. Robert Schumann (Genovewa5) wirklich die Vorboten einer besseren Richtung sind, werden Sie am deutlichsten wissen, zumal Sie kürzlich Leipzig bei der erstmaligen Aufführung der Genovewa mit Ihrer Gegenwart beehrten. Die Welt möchte so gern wieder eine neue Aura des Kunstgeschmacks entstehen sehen! [welches mehr „natürlich“ u. nicht durch das Ausbeuten aller zu Gebote stehenden Mittel nur einer kurzen Zeitidee huldigt. Durch Meyerbeer‘s „Prophet“ scheinen mir der Culminationspunkt dieser Epoche erreicht zu haben u. können keinenfalls mehr hierin progrssirend vorschreiten.]6
Wie traurig es in jeder Weise um die musikalischen Leistungen selbst schon berühmter Komponisten in diesem Augenblick steht, haben wir in Königsberg am ersten Weihnachtsferientage bei Halevy‘s „Rosenfee“ gesehen. Daß der Weltgeschmack von Paris (ich meine das dortige Vertretensein sämmtlicher – auch absurder Kunstideen) diese Oper zum öfteren mit grossem Beifall gegeben hat, wundert mich nicht; indessen befremdet7 es mich, daß der geläuterte Geschmack Leipzig‘s auch Wohlgefallen an diesem Machwerke gefunden. Es trifft zur Ungunst(?) dieser Opern-Dichtungen so Manches zusammen und haupftsächlich, daß der Dirigent und Schöpfer des ganzen französischen Dramen-Marktes, der nie ruhende Scribe sich dennoch endlich überlebt zu haben scheint und wohl thäte seine fleißige Feder einem jüngeren, geisteskräftigeren Nachfolger zu überlassen. War es doch immer ein großer Mangel, daß sich zur Abfassung von Operntexten nie die klassischen Dichter der Nation hingaben, sondern großentheils Leute dazu fanden, welche fabrikartig – des Gewinnes halber selbstige ausarbeiteten.
Es war solches jedenfalls ein Vergehen – eine Geringschätzung gegen die Componisten, welche wirkliche klassische Musik zu schaffen durch diesen Mangel zum wenigsten sehr erschwert wurde. Nur freilich, wie Mozart, den glücklichen Geist der „Don Juan-Idee“ traf u. Sie, hochverehrter Herr Hofcapellmeister! der „Faustsage“ konnte sich wohl durch den hochpoetischen Stoff schon begeistern lassen und das Libretto vermöge eigener Intentionen glücklich umschaffen, wer aber (wie die meisten Componisten) das sehr Gewöhnliche – phantasielose hinnehmen mußte, wird ohne großen Genius hier gewöhnlich gescheitert sein.
Entschuldigen Sie geneigtest diese meine weitläufigen Worte, es war mir aufrichtiges Bedürfniß Ihnen gegenüber solche aus wahrem Bewußtsein auszusprechen!
Schließlich erlaube ich mir noch eine ganz ergebene Bitte. - Durch Ihre weitreichne Verbindungen in älterer und neuerer Zeit, ist gewiß manches (vielleicht für Sie entbehrliches) Blatt bedeutender Componisten u. Künstler in Ihrer Hand; Sie könnten solches in keine dankbarere u. bessere bringen als in die Meinige, welche mit wahrer Pietät diese Gaben fortdauernd aufheben wird. Denn selbst noach meinem Tode bleiben die mannigfachen Sammlungen in fester Familien-Hand. Grade auf diesem Felder der Kunst ist in meiner Autographen-Sammlung eine bedeutende Lücke. Gluck, Weber, Beethoven pp - Meyerbeer, Liszt pp - der zu früh hingegangene Franz Schubert fehlen mir ganz. Auch bitte ich von Ihrer gefeierten Nichte, Frl. Rosalie Spohr (wenn möglich) um einige Zeilen. - Alles u. Jedes aus Ihrer Hand ist mir theuer!
Möge der Himmel Ihnen, hochgeehrter Herr Hofcapellmeister auch zum Jahreswechsel fortdauernd das gewähren, was zum wahren irdischen Glück nöthig ist!
Mit der vorzüglichsten Hochachtung zeichne ich mich zu meiner Ehre als

Ew. Hochwohlgeb.
ganz ergebenster
Minden
Gutsbesitzer auf Ziegelhof bei Königsberg in Preußen

Zghf. d 27t Dzbr. 50



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Minden, 15.12.1850. Spohr beantwortete diesen Brief am 19.01.1851.

[1] Vgl. „Leipzig“, in: Neue Zeitschrift für Musik 33 (1850), S. 275f., hier S. 275.

[2] „Für die Concerte im Königin-Theater zu London, welche am 15ten October beginnen, werden Felicien David, Spohr und Marschner neue Werke schreiben.“ („Tagesgeschichte“, in: Neue Zeitschrift für Musik 33 (1859), S. 176).

[3] Worauf sich diese Klammer bezieht, ist unklar.

[4] Hier ein Buchstabe gestrichen („a“?).

[5] Sic!

[6] Der eingeklammerte Abschnitt ist am unteren Seitenrand eingefügt.

[7] „befremdet“ über einem gestrichenen Wort eingefügt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (18.08.2017).