Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck 1: Louis Spohr, Louis Spohr's Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 342 (teilweise)
Druck 2: La Mara (= Pseud. für Marie Lipsius), Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892, S. 143f. (teilweise)
Inhaltsangabe 1: Computerdatei von Herfried Homburg († 2008) nach einem Exzerpt von Franz Uhlendorff
Inhaltsangabe 2: Hermann Kretzschmar, „Die Bach-Gesellschaft. Bericht im Auftrage des Directoriums“, in: Joh. Seb. Bach ’s Werke, Bd. 46, Schlussband Bericht und Verzeichnisse, Leipzig 1896, S. XIV-LXIII, hier S. LIV

<Cassel, den 8ten December 1850.
Geehrter Freund,>
 
... Unsere Lage ist jetzt wahrlich eine verzweiflungsvolle! In wenigen Tagen wird der Kurfürst zurückkehren, mit ihm Hassenpflug und seine <Spiesgesellen>. Da man sie nun frei schalten läßt, so werden sie nicht eher ruhen, als bis die Verfassung völlig vernichtet <und die schamloseste Willkür an ihre Stelle getreten> ist. Sollten auch die Stände berufen werden, so werden sie doch sicher in dem Augenblick, wo sie zur Anklage der Minister schreiten, wieder aufgelöset werden. Die Feigheit des Preußischen Ministeriums hat uns mit dem ganzen übrigen Deutschland um die errungene Freiheit gebracht1 und leider ist keine Aussicht, daß die jetzige Generation eine zweite und dann hoffentlich erfolgreichere Erhebung der deutschen Nation erleben werde. — Wäre ich nicht zu alt, ich wanderte nach dem freien Amerika aus.
Unser Orchester wird durch die Rückkehr der Gardemusik bald wieder in den früheren Stand gebracht seyn, und so hört für mich wenigstens die Pein auf, die ich im Theater zu erdulden hatte. Auch können wir nun wohl noch Concerte für unsere Wittwenkasse veranstalten, wenn unter dem Hassenpflug'schen Regimente noch jemand Lust hat, Musik zu hören. Unsere Quartett-Soiréen sind ziemlich besucht und finden großen Beyfall.
<Einliegend erstatte ich Ihnen mit dem herzlichsten Dank Ihre Auslagen.
Unter herzlichen Grüßen an Ihre liebe Frau mit wahrer Freundschaft ganz
 
der Ihrige
Louis Spohr.
 
N.S. Mein neues Quintett habe ich bey alle dem Ärger über die Fürsten und ihre Knechte doch vollendet und werde es nächsten Freitag in der Quartettparthie bey Fr. v. Malsburg zum ersten Mal vortragen. — In der letzten Quartettsoiree spielte ich mein 3tes Doppelquartett, Bott ein Quartett von Messel2 was uns sehr gefallen hat, und Kömpel ein Mendelssohn'sches.>



Der letzte überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Hauptmann an Spohr, 09.11.1850. Der nächste überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 09.01.1851.
Ergänzungen von Druck 2 gegenüber Druck 1 sind mit dreieckigen Klammern markiert < >. Die Inhaltsangabe von Uhlendorff entspricht teilweise dem überlieferten Text: „U.a. über die politischen Zustände in Kurhessen, die ,preußische Feigheit‘, äußert Auswanderungsgedanken“.
[Ergänzung 24.06.2020: Kretzschmar ergänzt den Inhalt: „Am 8. December 1850 schreibt Spohr an Hauptmann, dass seine Bemühungen Theilnahme für das Unternehmen zu finden aus zwei Gründen fruchtlos geblieben seien: 1) wegen der traurigen politischen Verhältnisse, 2) wegen der Verpflichtung sämmtliche Werke Bach ’s nehmen zu müssen. (C)“.
Die Briefe Robert Schumann an die Bachgesellschaft in Leipzig, 10.12.1850 und Bachgesellschaft an Schumann, 25.01.1851 (in: Robert und Clara Schumann im Briefwechsel mit Moritz Hauptmann und der Bachgesellschaft zu Leipzig 1831 bis 1853, hrsg. v. Annegret Rosenmüller, in: Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Korrespondenzten in Leipzig 1830 bis 1894 (= Schumann Briefedition II,20), Köln 2019, S. 455-503, hier S. 478f.) legen nahe, dass Spohr mit diesem Brief auch einen Wahlzetter für den Vorstand der Bach-Gesellschaft mitgesandt haben könnte.]
 
[1] Am 26.10.1850 beschloss der Deutsche Bund im Kurhessischen Verfassungsstreit eine Bundesintervention. Am 01.11.1850 überschritten bayerische und österreichische Truppen die kurhessische Grenze, am 22.12. rückten sie auch in Kassel ein (vgl. Rüdiger Ham, Bundesintervention und Verfassungsrevision. Der Deutsche Bund und die kurhessische Verfassungsfrage 1850/52 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 138), Darmstadt und Marburg 2004, S. 204f. und 230). Ebenfalls am 01.11.1850 erhielten an der kurhessische Grenze stationierte preußische Truppen den Befehl, zum Schutz der beiden durch Kurhessen führenden Etappenstraßen dort einzumarschieren,was zu Protesten Kurhessens und Österreichs führte (vgl. ebd., S. 207f.). Spohrs Klage über die „Feigheit des preußischen Ministeriums“ bezieht sich vermutlich darauf, dass sich Preußen am 29.11.1850 in der sogenannten Olmützer Punktuation zum Rückzug aus Kurhessen verpflichtete (vgl. ebd., S. 213).
 
[2] Vielleicht ein Quartett von Franz Joseph Messer, den Bott wohl aus seiner Zeit als Mozart-Stipendiat in Frankfurt am Main kannte.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (24.01.2016).