Autograf: nicht ermittelt
Vorlage: Korrekturfahnen zu Druck (in: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 2.4)
Druck: Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 338ff. (teilweise)

Dem Kurfürsten fiel es plötzlich ein, die Garde mit ihrer Musik nach Hanau nachkommen zu lassen, und mir dadurch zwei Drittheile des Orchesters zu entführen.1 Ich mußte nun Alles, was an Regiments-Musikern in Cassel zurückgeblieben war, prüfen und die erträglichsten für das Orchester auswählen. Leider waren sie aber so schlecht oder doch so ungeübt, daß ich nun von jeder, auch der bekanntesten Oper zwei bis drei Orchesterproben im Voraus machen muß, wobei es an Ärger natürlich nicht fehlt. So lastet also auch in dieser Beziehung1a auf Niemand der Belagerungszustand schwerer, als auf mir und den armen geplagten übrigen Civilmitgliedern des Orchesters! Mehrere davon sind nun noch von der Cholera2 befallen und meine Schüler hat die Angst vor der Krankheit, bis auf einen, sämmtlich fortgetrieben, so daß ich die leeren Plätze bei den Geigen nicht einmal durch diese besetzen kann. So hatten wir denn gestern anstatt sechszehn Geigen sechs, und statt vier Bratschen nur zwei und zwar schlechte. So etwas habe ich in meiner Kapellmeister-Praxis noch nicht erlebt! Was es nun mit unsern Winter-Concerten, deren Ertrag unsere Wittwenkasse gar nicht entbehren kann, werden soll, wenn die Gardemusik nicht bald zurückkehrt, weiß ich wahrlich nicht! Mit dem jetzigen Orchester sind keine Symphonien zu geben; ich werde mich daher wohl entschließen müssen, öffentliche Quartett-Soiréen für die Wittwenkasse zu veranstalten und dabei selbst mitzuwirken.3 Zum Glück ist unser Quartett ganz vorzüglich. [...] Von unserer politischen Krisis schreibe ich Ihnen nicht, da Sie das besser und weitläuftiger in den Zeitungen lesen können. Aber das ganze Land ist durch diesen Hassenpflug in eine beispiellose Verwirrung gebracht, und man hat leider noch nicht die leiseste Hoffnung, daß er weichen werde. Am übelsten sind die armen Offiziere daran, denn es heißt, die Regierung wolle sie in diesen Tagen entlassen und fremde an ihre Stelle setzen. Die jüngsten fänden nun wohl in Schleswig-Holstein oder in der preußischen Armee ein anderes Unterkommen, die älteren und verheiratheten, fast alle mittellos, kommen aber in eine verzweiflungsvolle Lage! Da sie sich, mit wenigen Ausnahmen, sehr nobel benommen haben, so erregt ihr Schicksal die allgemeinste Theilnahme.4 Wie aber5 die jetzige Regierung gehaßt ist, davon wird man auswärts sich kaum einen Begriff machen können [...]

Autor(en): Spohr, Louis
Adressat(en): Hesse, Adolph
Erwähnte Personen: Friedrich Wilhelm Hessen-Kassel, Kurfürst
Hassenpflug, Ludwig
Erwähnte Kompositionen:
Erwähnte Orte: Hanau
Kassel
Erwähnte Institutionen: Hofkapelle <Kassel>
Hoftheater <Kassel>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1850102401

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Hesse an Spohr, 06.10.1850. Die Datierung folgt der Angabe im Druck. Hesse beantwortete diesen Brief am 03.02.1851.
Der Brief ist im Druck offensichtlich gekürzt. Möglicherweise äußerte sich Spohr auch zu der von Hesse im Vorbrief geäußerten Frage, ob das Hoftheater ebenfalls nach Hanau verlegt werden solle.
[Ergänzung 19.01.2022: zunächst nach Druck ediert, nun nach den erhaltenen Korrekturfahnen ergänzt.]
 
[1] Vgl. „Hessen”, in: Baierscher Eilbote (1859), S. 928.
 
[1a] [Ergänzung 19.01.2022:] „auch in dieser Beziehung“ im Druck gestrichen.
 
[2] Vgl. „The Cholera at Cassel”, in: Lancet 2 (1850), S. 567.
 
[3] Vgl. Louis Spohr, Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 342f.
 
[4] Die Mitglieder des kurhessischen Offizierskorps hatten einen doppelten Eid auf den Kurfürsten und die Verfassung geleistet. Um dem Dilemma, dem augenscheinlich verfassungsfeindlichen Befehl des Kurfürsten, den Kriegszustand in Kurhessen durchzusetzen, ersuchten bis zum 12.10.1850 knapp 80 % der kurhessischen Offiziere um ihren Abschied (vgl. Rüdiger Ham, Bundesintervention und Verfassungsrevision. Der Deutsche Bund und die kurhessische Verfassungsfrage 1850/52 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 138), Darmstadt und Marburg 2004, S. 182f.).
 
[5] [Ergänzung 19.01.2022:] Ab hier im Druck gestrichen.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (25.04.2016).