Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Osnabrück, d. 24. August 1856.
Hochverehrter Herr und Meister!
indem ich mich beehre Ihnen anbei die gewünschten Instrumentalcompositionen zu überreichen, fühle ich mich gedrungen, erfüllt von der hohen Bedeutung jener Angelegenheit, deren Entscheid in Ihre Hand gelegt ist, einige darauf bezügliche Worte an Sie zu richten von deren huldreicher Aufnahme ich überzeugt sein zu dürfte glaubte. – Gestatten Sie mir gütigst vor Allem meiner großen Freude und innigsten Dankbarkeit in Folge Ihrer hohen Anerkennung meiner geringfügigen Leistungen auf dem Gebiete der Composition hierdurch einen schwachen Ausdruck zu verleihen. Mit aufrichtigem Herzen darf ich Ihnen versichern, daß Nichts im Stande gewesen wäre, mich für so manches erlittene Ungemach in erfreulicherer, ehrenvollerer Weise zu entschädigen, als die Anerkennung eines so allgemein verehrten Meisters, daß meine bisherigen Bestrebungen nicht ganz eitel waren, ein Wort welches ungeahnte Kräfte ins Leben ruft, den Bescheidenen nur um so bescheidener machend. Wenn nichts desto weniger das beifolgende Werkchen, wiewohl das Product jener höheren Regung des Gemüths hinter seinen übrigen Geschwistern vielleicht mehr oder weniger zurückgeblieben ist, so wollen Sie doch nicht beirren, verehrter Meister! Wie könnte es Anders sein!
Bereits früher in einem, meinem Gesuche beigefügten Schriftchen1 fürchte ich ein schwaches Bild von den zahlreichen Mißständen, unter denen mein bisheriges Leben verrauschte, aufzustellen, und deren hemmenden Einfluß auf meine musikalische Entfaltung darzuthun.
Indem ich mir erlaube, im Allgemeinen auf derselben hierzu rechnen, dürfte es mir vielleicht gestattet sein, an dieser Stelle weniges über den wirklichen Stand meiner dermaligen Bildung zu sagen, woraus jenes Mißverhältniß, wie mir scheint, als eine nothwendige Folge erscheinen möchte. – In der Theorie der Musik beschänkt sich mein Wissen auf die Kenntniß der Harmonielehre in engster Bedeutung; Fuge, Contrapunct, Kunst der Bearbeitung, Formenlehre kenne ich nur vom Hörensagen. Auch habe ich mich niemals in einer andern Form als der des Liedes bewegt. Die Composition war mir bisher nicht Studium, sondern Bedürfniß und Erholung, Erholung von Schmerzen, denn meine schwachen Kräfte vielleicht nicht hätten widerstehen können ohne jenen Talismann. Was Wunder also, wenn ich mich ausschließlich einer Gattung hingab, in der ich Gebilde zu schaffen vermochte, woran mein ästhetisches Gesicht mitunter sich zu erlaben wußte, während ich nicht hoffen zu dürfen glaubte, in größeren Formen ohne vorausgegangene ernstliche Studien einigermaßen lebenskräftige Producte hervorzubringen. – Auch in der Literatur fühle ich mich Neuling.
Unsern älteren Meister, Händel, Bach, Gluck u. A. kenne ich gar nicht, von Haydn, Mozart u. Beethoven nur vereinzelte Werke, wie solche in Opern und Concerten flüchtig an meinem Geiste vorübergegangen. Ebenso lückenhaft ist meine Kenntniß der neueren Literatur. Von Ihnen z.B. verehrter Herr und Meister kenne ich nur „die Weihe der Töne“, welche im Jahre 1846 in Leipzig unter Ihrer eigenen hohen Leitung zu hören ich das Glück hatte!!!2
Instrumentalstudien im gewöhnlichen Sinne sind mir gleichfalls fremd geblieben; das einzige Instrument, worauf ich mich heimisch fühlen dürfte, ist das Pianoforte: Zwar versuchte ich, während meines früheren Aufenthaltes mich dem Conservatorium3 einige ernstliche Violinstudien zu machen; mein damals krankhaft erregtes Nerven-System veranlaßte mich indeß leider schon bald, dieselben einstweilen zu sistiren, und so werde ich denn auf jenem Instrumente wohl wieder von vorn anfangen müssen. – In diesem völlig unvorbereiteten Zustande also traf mich die mir gestellte weitere Aufgabe, der ich mich weder entziehen konnte, noch auch wollte. Eine Hoffnung beruhigte und belebte mich! – Vielleicht sagte mir eine innere Stimme, ist es dem großen Meister möglich, an dem ersten Federstrichen des Neulings ersehen zu können, was derselben als gereifter Künstler in günstigeren Lebenslagen vermag. Möchte es so sein! Denn gebe Gott, daß meine Befähigung für die Kunst nicht allzuweit hinter weniger unbegrenzter Hingebung gegen sie zurückbliebe, und daß die Klänge, welche mich so oft beschleichen, keine Sirenenklänge waren, mich auf ein Gebiet zu verlocken, für das ich nicht geschaffen war. –
Entschuldigen Sie gütigst, verehrter Meister meine große Freiheit mit der ich es wagte, erfüllt von der hohen Bedeutung meiner Angelegenheit für mein ganzes Leben, wie für das Glück theurer Angehörigen, Ihre so überaus kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen, und genehmigen Sie freundl. den Ausdruck meiner tiefsten Hochachtung und Verehrung, womit ich unterzeichne als
Ihr
ganz ergebener
Julius Lammers.
Autor(en): | Lammers, Julius |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | |
Erwähnte Kompositionen: | Spohr, Louis : Die Weihe der Töne |
Erwähnte Orte: | |
Erwähnte Institutionen: | Konservatorium <Leipzig> Mozartverein <Gotha> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1850082644 |
Mit diesem Brief beantwortet Lammers Spohrs Forderung in seinem undatierten Gutachten für den Mozartverein in Gotha, er möge für ein Stipendium neben den bereits eingereichten Liedern auch noch Instrumentalkompositionen einreichen.
[1] Hier gestrichen: „ein“.
[2] Vgl. „Leipzig“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 48 (1846), Sp. 457ff.
[3] Vgl. Emil Kneschke, Das Conservatorium der Musik in Leipzig. Seine Geschichte, seine Lehrer und Zöglinge. Festgabe zum 25jährigen Jubiläum am 2. April 1868, Leipzig 1868, S. 36; ders., Das Königliche Conservatorium der Musik zu Leipzig. 1843-1895, Leipzig 1893, S. 63, 67, 70 und 82
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (24.08.2021).