Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochzuverehrender Herr Generalmusikdirector!

Längst schon war es mein sehnlichster, innigster Wunsch, den Unterricht im Geigenspiele bei Ew. Hochwohlgeboren genießen zu können, um vorzugsweise die Compositionen Ew. Hochwohlgeboren an der ersten, gediegenen Quelle zu studieren; doch meine in finanzieller Hinsicht nicht sehr günstige Stellung bei hiesiger Hofkapelle trat mir hemmend entgegen, meinen Lieblingswunsch bis jetzt in Ausführung gebracht zu haben. Vor kurzem hatte ich das Glück, durch mein Solospiel in einem der Abonnementconcerte in der „Erholung“ dem Durchlauchtigst. Fürst nebst Gemahlin besonders zu gefallen, und in Folge dessen wurde auch auf mein Gesuch, eine Zeitlang bei Ew. Hochwohlgeboren Unterricht nehmen zu können, eingegangen, und eine zu diesem Zwecke nöthige Gratification mir bewilligt, und kann nach dem Schluß der Theatersaison im Laufe d.M., vielleicht den 18 d.M. von hier abreisen –. Nach der in einer der Leipzig. musikalischen Zeitschriften enthaltenen Trauerkunde, nach welcher Ew. Hochwohlggeboren leider einen höchst unglücklichen Fall auf dem Eise erlitten0, waren Alle, denen es kund ward, den herzlichsten Antheil nahmen, glaubte ich leider schon, für den Sommer den Plan, bei Ew. Hochwohlgeboren Unterricht erhalten zu können, aufzugeben, wenn nicht alsbald sich das erfreuliche Resultat herausgestellt, dass Ew. Hochwohlgeboren seit geraumer Zeit das Zimmer haben verlassen können0a, was mich hoffen läßt, daß Ew. Hochwohlgeb. sich stark genug fühlen werden, mir Unterricht ertheilen zu können –. Die Zeit meines Aufenthaltes in Cassel wird sich freilich vor der Hand nicht viel über 4 Wochen erstrecken, da Ausgangs Mai die sogenannten Lohconcerte beginnen, doch gedenke ich, die Hauptferienzeit der Capelle; Octb u. Novembr zur Fortsetzung des Cursus zu benutzen. Da ich bereits etwas über sechs Jahr als Violinspieler bei der 1. Geige placiert bin und mich auch im Solospiele herangebildet habe, glaubte ich, es unterlassen zu können, mir, wenn Ew. Hochwohlgeboren es nicht besonders wünschen sollten, ein Attest von meinem Vorgesetzten, H. Capellmeister Herrmann ausstellen zu lassen. In der Voraussetzung, dass Ew. Hochwohlgeboren nicht übel deuten werden, wenn ich mein Schreiben etwas zu weit ausspinnen, erlaube ich mir nur noch, meine gehabten Lehrer kurz zu berühren. Den Anfang auf der Geige machte ich schon vor dem sechsten Jahre bei meinem seligen Vater1, zuletzt Cantor in Holzthaleben, ein Musikfreund von ganzer Seele und vorzugsweise Spohrscher Musik. Mein zweiter Lehrer ward mehrere Jahre der Assessor Wunderlich in Keula, der bei hiesiger Capelle längere Zeit als Geiger mitgewirkt. Während meiner Schülerjahre auf dem hiesigen Gymnasio, welches ich bis Prima verfolgte, ertheilte mir der verstorbene Kellerschreiber Lindner, Vorgeiger in der Capelle, Unterricht. Da ich wegen der vielen Schularbeiten nur wenig Zeit auf die Violine verwenden konnte und meine Neigung zum gänzlichen Uebertritt in eine musikalische Carriere immer vorherrschender wurde, verließ ich das Gymnasium, unterstützte meinen Vater über ein Jahr in der Schule und hatte vorzüglich die Geige im Auge. Bei einer Vacanz in der Capelle erhielt ich dann nach gethaner Probe im Solospiel eine Stelle hieselbst. In dieser Zeit nahm ich bei dem Cammermusikus Wallbrül, Schüler Ew. HochWohlgeboren2, Unterricht, und habe dero Violinschule und einige Concerte gewissenhaft durchgearbeitet. Später war mir besonders von großem Vortheil das Zusammenwohnen mit meinem Bruder Carl, Schüler Ew. Wohlgeboren. Im Laufe dieses Winters spielte er in einem der Concerte zur „Erholung“ das Potpourri über: „irländische Thema“3 von Ew. Hochwohlgeboren, und gefiel damit ausnehmend. Das aus den höheren Ständen zusammengesetzte Publikum weiß recht gut Spohrsche gediegene geistvolle Compositionen zu würdigen, zumals unser Concertmeister Uhlrich, als tüchtiger Virtuos bekannt, gar zu sehr den modernen Violinsächelchen huldigt und während drei Jahre ein Spohrsches Concert noch nicht Gehör gebracht hat.
In dem Musikverein, der Ew. Hochwohlgeb. sehr vielen Dank schuldig ist, haben wir vor kurzem wieder ein Doppel-Quartett Ew. Hochwohlgeb. vorgetragen, und wie immer den lebhaftesten Applaus geenrtet. Als besondere Kuriosität erlaube ich mir noch zu berichten, dass Meyerbeer’s Prophet am 5. & 8. d.M. mit sehr günstigem Erfolge bei vollem Hause über die Bretter ging. Gestern wurde auch der H. Capellmeister Hermann gerufen.
Zu meinem baldigen Aufenthalte in Cassel habe ich mich besonders auf das zweite4, achte5 und neunte6 Concert, so wie auf einige Potpourris, „über die Beschwerden“7 und Jessonda8 vorbereitet. Aeußerst angenehm würde es mir sein, wenn Ew. Hochwohlgeboren die Güte hätten, sobald es dero Geschäfte erlauben, mir gefälligst anworten zu wollen.
Mit der ausgezeichnetsten Hochachtung

verharrt
Ew. Hochwohlgeboren
ganz ergebenster Diener
Louis Hässler,
Fürstl. Capellist & Musiklehrer.

Sondershausen,
den 8/450.



Spohrs Antwortbrief vom 12.04.1850 ist derzeit verschollen.

[0] [Ergänzung 09.05.2022:] „Spohr in Kassel“, in: Signale für die musikalische Welt 8 (1850), S. 71.

[0a] [Ergänzung 09.05.2022:] „[Spohr ist von seinem Sturze]“, in: ebd., S. 84.

[1] Carl Benjamin Haessler.

[2] „Hoch“ über der Zeile eingefügt.

[3] Op. 59.

[4] Op. 2.

[5] Das „Konzert in Form einer Gesangszene“ op. 47.

[6] Op. 55.

[7] Op. 5 liegt die Arie „Über die Beschwerden des Lebens“ aus der Oper Le petit matelot von Pierre Gaveaux zugrunde.

[8] Op. 66.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (27.07.2020).