Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287[Firnhaber:18

Lieber Herr Kapellmeister!

Indem ich mich heute anschicke, Ihnen zu Ihrem Geburtstage meine schönsten, besten Glückwünsche darzubringen, treten mir zunächst jene Wochen lebhaft vor Augen, wo die Zeitungen mit abgebrochenen Nachrichten ihre auswärtigen Freunde in bewegende Spannung erfülten. Es war an einem Quartettabend, wo wir eben eines Ihrer herrlichen Werke zum möglichst vollständigen Genuß gebracht gesehen, als mir, dem sonst so eifrigen Zeitungsleser, jetzt aber ebenso eifrigen Zeitungshasser gesagt wurde, welch ein Unfall Sie betroffen u welche Befürchtungen sich daran knüpften. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie tief ich davon ergriffen wurde. Die herrliche „Gondelfahrt“1, für jenen Abend eigens verschrieben, wurde zurückgelegt. Aber gottlob! hat sie ein baldiges Auferstehungsfest gefeiert u Ihre Verehrer dürfen wieder mit Lust u Freude an Sie denken u an den großen Meister, dessen Talent ein unauslöschliches ist u Gott gebe es noch lange bleiben wird. So bringe ich Ihnen denn einen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Genesung u entledige mich zugleich des Auftrags, Ihnen einen gleich innigen nicht bloß von meiner Frau sondern auch von dem Kreiße der neu erworbenen Musikfreunde darzubringen.
Sie müssen nemlich wissen, daß auch die Muse meiner Tonkunst aus dem Schlafe aufgeweckt ist. Denn Banden, in welche sie theils durch meine Berufsgeschäfte, theils durch die Mauheit meiner Bekanntschaften geworfen war, sind gesprengt worden u gleich aufs Beschiedenste. Bei der Frage, mit welcher Musik ich die neu erwachte laben u stärken wolle, treten mir jene schöne Zeiten meines Casselschen Aufenthalts vor die Augen u die Antwort war schnell gefunden. Ich habe mich mit einigen Familien zu vierzehntägig wechselnden Quartettabenden verbunden u dieser Bund hat sich trefflich bewährt. Unsere Geiger2 sind sehr strebsame Mitglieder unseres Theaterorchesters, der erste Violinist ein Schüler Müllers und inniger Verehrer von Ihnen. So gelungen ich denn wieder zu einem Abglanz der alten Zeit u da man genügsamer geworden ist, so genügt mit einiger Rückerinnerung das Fehlende. So hoffe ich, wenn Sie jetzt einmal wieder bei uns vorsprechen, Ihnen mehr als früher versprechen zu können; ja! ich hatte die frevelhafte Freude, daß Sie vielleicht zur Nachkur Ihres Unfalls von Ärtzten zu unserm Bade gesandt werden könnten u ich vom Bade noch Ursache hätte, Ihren Unfall als die Quelle meines längeren Beisammenseyns mit Ihnen zu greifen. Das sollten Sie den wenigstens erfahren, daß Sie keinen innigern Verehrer haben können als ich es bin.
Meiner Stimme scheint die fast fünfjährige Ruhe gut bekommen zu seyn. Ich singe wenigstens mit der alten Leichtigkeit auch noch mit Brust bis A u B. Aber die Rückung des Gemüths, der Sinn für die wahre Kunst ist ein andrer, ein tieferer geworden. So kann ich jetzt gar nicht mehr begreifen wie ich in op. 101 das mittlere Gesangstück mit vierhänd. Begleitung früherhin nicht so goutiren konnte. An einem der eben beschriebenen Abende, wo wir nur Classisches zulassen, der Lobsgesang von Mendelssohn recht hübsch executirt war, auch dessen achtstimmige Motette (wir fangen nemlich präcis 7 Uhr an u vor ½ 11 geht es nicht zu Ruh), hatte ich mir aufgespart, jenes Op. 101 zur Kenntniß des [???] zu bringen. Das Accompagn. war zwar nicht das liebe sichere, meiner Stimme sich so rücksichtsvoll anbequemende der Schwestern3, die ich beide in inniger Verehrung zu grüßen bitte, aber die beiden Damen, die es übernahmen, sind Ihre Verehrerinnen u sie hörten auf meine Fingerzeige. Das war eine Steigerung der Empfindungen: nro 1, dann 3, dann 5. Es war wieder die Krone des Abends: u ein allgemeiner Trost auf den niedergewesenen Meister war der Ausdruck der Gefühle. Wenn ich nur Ihnen einmal wieder diese unendlich glücklichen Schöpfungen Ihres Talents vorlegen könnte!
Auch das übrige musikalische Treiben von Wiesb. hat durch die Berufung des Kapellm. Schmidt (Componist des Prinzen Eugen) einen neuen Aufschwung erhalten. Er ist ein junger, strebsamer Mann, der das Orchester ganz vortrefflich in seiner4 Gewalt hat u bemüht ist, was ich rühmend anerkenne, die Kunst in Wahrheit zu pflegen u zu heben.
Für den Sommer habe ich ein Kaffeekränzchen in Aussicht genommen u als Aufgabe gesteckt – – Pietro von Abano. Hoffentlich führt Sie eine Reise auch bis zu uns, dann singen wir Ihnen das Alles vor. Ich fühle den Mangel an Bekanntschaft mit den Werken, die seit 1841, wo ich Cassel verließ, Ihrer Schöpferhand ihr Daseyn verdanken; könnte ich Ihre liebe Frau ihre Güte soweit treiben u auf einem Blättchen mir mal ein Verzeichniß derselben zukommen lassen, da würde ich den Mangel bald abhelfen.
Von den Zeitereignissen schreibe ich nichts. Auch die kühnsten Prophezeiungen der Dunkelseher werden zur Wahrheit. Ich bin nie ein großer Freund der Mineralogie gewesen, aber könnte ich durch ein Studium derselben den Stein finden, der gewissen Leuten mit leichter Mühe an den Hals gehängt werden könnte, um sie kurzer Hand ins Wasser zu expediren, ich würde ein eifriger Mineralog. Beachten Sie in nächster Zeit Württemberg. Durch einen Zufall bin ich vergewissert, daß der König mit dem Plan lebhaft umgeht, sich durch ein demokratisches Ministerium der Demokratie in die Arme zu werfen. Wenn die Spitzbuben sich schlagen, ziehen die ehrlichen Menschen gemein daran. Qui vivra verra5. Ich habe hier in Hanau, wo ich mit meiner Familie verweile während der Ferien, mit lebhafter Freude gesehen, wie Ihr Schwiegervater6 fortwährend der rüstige Kämpfer bleibt. Möchte er sein bedeutsames Wort noch oft ertönen lassen.
Ich schließe mit der angelegentlichen Bitte, mich allen den Ihrigen zu empfehlen, sowie meine Frau sich den obigen Glückwünschen aufs Herzlichste anschließt u speziell Ihrer lieben Frau die schönsten Grüße darbringt. Im Herbste hoffen wir einmal in Cassel zu erscheinen: aber vorher denke ich begünstigt uns das Geschick, Sie erst wieder einmal bei uns zu sehen. Dann aber, nicht wahr?, dann bringen Sie auch die Geige mit!
Mit aller verehrungsvoller Gesinnung u den besten Wünschen für Ihr Wohlergehen

Ihr
CGFirnhaber

Hanau d. 3ten April 1850.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Firnhaber an Spohr, 17.05.1849. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Firnhaber, 21.09.1850.

[1] Op. 101.6.

[2] Noch nicht ermittelt.

[3] Marianne Spohr und Caroline Pfeiffer.

[4] „seiner“ über gestrichenem „Sie“ eingefügt.

[5] „Qui vivra verra“ (lat.) = „Die Zukunft wird es zeigen“.

[6] Burchard Wilhelm Pfeiffer.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (17.12.2020).