Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Hochverehrter Meister

Empfangen Sie zuförderst meinen ergebensten Dank für Ihr gütiges Schreiben, ich hoffe und wünsche daß Ihre Frau Gemahlin sich wieder der beßten Gesundheit erfreut damit Ihr schönes, thätiges Künstlerleben auf keine Weise getrübt wird.
Hierbei schicke ich mit Ihrer gütigen Erlaubniß Buch und Partitur meiner Oper und wünsche vom Herzen daß es Ihren Beifall erhalten möge. Als junger Mensch hörte ich zum Erstenmale Azor und Zemire und Ihr schönes Werk machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich, als ich mich reif genug glaubte eine Oper zu schreibe[n] mir vornahm es mit einer Zauberoper zu versuchen, und wenn ich nun auch mir nicht einbilden kann mein Vorbild erreicht zu haben, so hoffe ich doch daß Sie, verehrter Meister ein edles reines streben darin finden werden.
Sie werden, hochgeehrter Herr in England neben dem warmen Enthusiasmus für das Schöne und Edle in der Kunst auch eine große Wahrheitsliebe gefunden haben und mir die Aufrichtigkeit verzeihen mit welcher ich Ihnen sage daß mir an der Aufführung meiner Oper in Kassel mehr liegt wie an ihrer Aufführung an irgend einem andern Orte. Vielleicht weil ich Mendelssohn-Bartholdys Oratorium nicht sehr liebe und über Oratorien die in England aufgeführt werden mich in der Wiener Musikzeitung 1843 ausgesprochen hatte1, vielleicht auch weil ich zum Oratorium weder Neigung noch Talent spüre, genug aus welchem Grund es seyn mag: Mendelssohn-Bartholdy hat in England von mir ausgebreitet, „ich hätte nur eine mangelhafte musikalische Ausbildung und durchaus nicht die nöthigen Kenntniße um eine aufführbare Oper schreiben zu können.“2
Diese in England, Leipzig und Berlin ausgebreiteten Gerüchte haben mir sehr geschadet und ich kann sie am beßten widerlegen wenn Deutschlands größter Tonmeister meine Oper aufführbar findet und mir ein gutes Zeugniß darüber, dadurch giebt. Sie wißen ja verehrter Herr wie vielen Werth Ihr schriftliches Urtheil für jeden Künstler hat und da ich noch jung und strebend bin, würde es für mich von unschätzbarem Nutzen seyn, wenn Sie mich auch auf das aufmerksam machen wollten, was meiner Oper fehlte, damit ich sie in der Zukunft vermeiden könnte.
Ich hoffe, wenn ich im Frühjahr nach England gehe, den Rhein hinab, den Umweg über Kassel zu machen – es müsste mich etwas sehr Wichtiges abhalten – und Ihnen nach meinem schriftlichen Danke, auch meinen mündlichen Dank darzubringen.
Um meine Abschrift der Partitur bald an Sie zu schicken, habe ich die Partitur geschickt, die ich später nach England schicken wollte, wenn wieder englische Oper ist. Ob der beiligende Brief abgegeben werden soll überlaße ich dem Ermeßen von Ihnen, da ich auf Ihren Schutz hoffe.
Mit der größesten Hochachtung und Ergebenheit

Ew Hochwohlgeboren
Verehrer
Henry Hugh Pierson

Hamburg den 23 Januar
1850.

Autor(en): Pierson, Henry Hugh
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Mendelssohn Bartholdy, Felix
Spohr, Marianne
Erwähnte Kompositionen: Mendelssohn Bartholdy, Felix : Paulus
Pierson, Henry Hugh : Leila
Spohr, Louis : Zemire und Azor
Erwähnte Orte: Berlin
Leipzig
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1850012344

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Spohr an Pierson.

[1] Vgl. Louis Spohr an Wilhelm Spohr, 07.01.1850.

[2] Pierson argumentiert hier zugunsten Spohrs gegen Felix Mendelssohn Bartholdy (Henry Hugh Pearson [sic!], „Deutsche Oratorienmusik in England“, in: Wiener allgemeine Musik-Zeitung (1843), S. 121ff.).

[3] Noch nicht ermittelt. Am 04.04.1844 stellte Mendelssohn noch ein positives Zeugnis über seine Kompositionen aus (Begleitbrief 04.04.1844, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 10, hrsg. v. Susanne Tomkovič, Christoph Koop und Janina Müller unter Mitarb. v. Uta Wald, Kassel u.a. 2016, S. 134). Nachdem er feststellte, dass Pierson das Zeugnis gegen den von ihm bevorzugten William Sterndale Bennett für die Reid-Professur an der Universität Edinburgh kandidierte, wertete er Piersons Fähigkeiten deutlich ab (an Robert Jameson, 24(?).05.1844, in: ebd., S. 177).

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (08.03.2023).