Autograf: Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Verehrter Meister


wenn auch Sie und die Begegnung mit Ihnen, mir unvergeßlich geblieben sind, so kann ich mir nicht schmeicheln, daß die Nennung meines Namens hinreichen wird, mich in Ihre Erinnerung zurückzurufen, und so muß ich dann ausführlicher von der Vergangenheit reden und Sie an England mahnen an das große Musikfest in Norwich wo ganz England Ihnen huldigte als Ihr Oratorium „des Heilands letzte Stunden“ aufgeführt wurde. Damals war ich noch ein Anfänger in der Kunst die ich jetzt mit Liebe und Begeisterung über, und hatte das Glück als ich mich Ihnen vorgestellt hatte, deutsch mit Ihnen zu sprechen, so gut ich es damals konnte. Später erhielt ich, auf meine von Dresden aus an Sie gerichtete Bitte, eine Absch[rift] der Partitur Ihres erhabenen Werkes: des Heilands letzte Stunden, denn eine Handschrift von Ihnen, die ich neben der Handschrift des heimgegangenen C.M. v. Weber und meines großen Landsmannes Byrons heilig aufbewahre habe.
Im Jahr 1844 wurde ich Professor der Musik an der Universität Edinburg, aber das Clima war mir nicht zuträglich, die Mangel einer Oper für mich sehr empfindlich; die Gesundheit meiner Frau, mit der ich mich damals verband, schwach, und so ging ich in ihr Vaterland zurück, das ich fast eben so liebe wie meine Frau. In den Jahren meines Hierseyns bin ich nun nicht ganz müßig gewesen und habe eine romantische Oper geschrieben, welche ich gern auf den deutschen Bühnen aufgeführt sähe, zur besondern Ehre aber würde ich es mir schätzen, wenn mein Werk in Cassel unter Ihrer Leitung zur Darstellung kommen könnte, indem ich Ihr günstiges Urteil über meine Musik, welches doch der Aufführung voran gehen müßte, als einen Empfehlungsbrief für England und überhaupt für die ganze Welt betrachten könnte. Auf meinen Compositionen habe ich mich aus Familienrücksichten Edgar Mannsfeldt genannt.1
Wenn Sie, verehrter Meister, geneigt wären meine Oper gütigst zu berücksichtigen und an die Erfüllung meiner Bitte zu denken, würde ich Ihr zu die Partitur von meiner Oper zusenden, ich habe sie noch keinem andern Herrn, der zu den deutschen Bühhnenvoständen gehört geschickt. – HIer wurde die Oper im Jahre 1848 aufgeführt und von Seiten des Publikums günstig aufgenommen{}, aber bald nachdem die Oper einigemale war, gingen die drei, in der Oper beschäftigten Hauptdarsteller ab, und da ich durch allerlei Zufälligkeiten mit Herrn Kapellmeister Krebs nicht ganz in guten Vernehmen stehe, habe ich es vorgezogen die Oper zurückzunehmen3, als die Direction sie wieder neu einstudiren lassen wollte.4
Im Laufe dieses Jahres hoffe ich wieder auf längere Zeit nach England zu gehen und werde mit Entzücken Ihre schönen Werke: The last Judgement5, the Crucifixion6, the Fall of Babylon, wieder hören.
Indem ich die Bitte ausspreche, daß Sie, verehrter Herr, mich mit einer Antwort beehren, bin ich mit besonderer Hochachtung

Ihr größter Verehrer
Henry Hugh Pierson.

Hamburg den 3 Januar 1850.
Große ABC Straße 71.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Pierson an Spohr, 02.04.1844. Spohrs Antwortbrief ist derzeit verschollen.

[1] Zum Pseudonym vgl. „Noten eines Zeitunglesers“, in: Der Östtereichische Zuschauer (1847), S. 655f.

[2] Vgl. den Verriss seiner Oper Leila: „Hamburg. (Februarbericht)“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 50 (1848), Sp. 217ff. und 227-231, hier Sp. 230f.

[3] Der Prozess Piersons gegen den Hamburger Theaterdirektor Baison deutet darauf hin, dass eine nicht durch den Komponisten autorisierte Bearbeitung inszeniert werden sollte („Aus der Musikwelt“, in: Zeitung für die elegante Welt 49 (1849), S. 47.

[4] Diese „offizielle“ Darstellung auch in: „Biographische Skizze von Henry Hugo Pierson“, in: Neue Wiener Musik-Zeitung 8 (1859), S. 129f., hier S. 130.

[5] Die letzten Dinge.

[6] Des Heilands letzte Stunden.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (08.03.2023).