Autograf: letzter Nachweis siehe Druck 5
Vorlage: Digitalisat von Auktionshomepage Online-Auktion Dorotheum 02.12.2021, Lot 245
Abschrift: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,193
Druck 1: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 243f. (teilweise, nach Abschrift)
Druck 2: Autographen, Bilder und Bücher. Auktion am 22. April 1955 in Marburg (= Katalog Stargardt 519), Marburg 1955, S. 59 (teilweise)
Druck 3: Im alten Stall (= Katalog Köstler 225), Tutzing 2022, S. 27f. (nach einer früheren Fassung dieser Edition)
Druck 4: Winterreise (= Katalog Köstler 226), Tutzing 2022, S. 76f. (dto.)
Druck 5: Larenopfer (= Katalog Köstler 227), Tutzing 2022, S. 27f. (dto.)

Sr Wohlgeb.
Herrn Wilhelm Speyer
im
Frankfurt a/m

frei.
Nebst einem
Paquet Musik-
kalien in blauen Papier, gez.
H.W.Sp.0


Cassel den 29sten
November 1849.
 
Geliebter Freund,
 
Es ist mir eine große Freude Ihnen und Ihrer lieben Tochter gefällig sein zu können. Der gewünschte Brief an den Herzog von Cambridge1 liegt in dem hier beyfolgenden Paquet im obersten Clavierauszuge. Den übrigen Inhalt des Paquets bitte ich an Herrn Just abzugeben.
Leider habe ich nicht dazu kommen können das Vater-Unser hier aufzuführen, indem immer andere Sachen einzuüben waren. Die Hoffnung, daß es doch noch dazu kommen könnte, ist auch die Ursache, daß ich mit der Zurücksendung so gezögert habe. Ich bitte mich deshalb bei Herrn Just zu entschuldigen. Sollte er das Vater-Unser dort einmal wieder mit Orchesterbegleitung zu geben gedenken, so kann ich ihm die Orchesterstimmen für vollständiges Orchester dazu borgen. Es macht sich so viel besser, wie mit den wenigen Blasinstrumenten. Auch sind die Singstimmen viel mehr gestützt.
Je älter ich werde, je mehr werde ich mit Geschäften überhäuft. Die Zusendungen von Kompositionen, die ich beurtheilen, von Anfragen, die ich beantworten soll, wollen gar kein Ende nehmen, so daß ich nur selten zu eigenen Arbeiten kommen kann. Meine Biographie habe ich daher erst bis zur italienischen Reise fortführen können und seit unserer Rückkehr aus Carlsbad nichts neues geschrieben als ein Klaviertrio (das 5te) und 3 zweistimmige Lieder für Soprane. – Unsere Musikpartien haben auch wieder begonnen und ich spiele häufig meine letzten Kompositionen der letzten Jahre, die Sie wahrscheinlich noch nicht kennen werden. Es sind dies 2 Quartette, ein Sextett für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelle und ein Doppelquartett (das 4te). Unsere Quartettmusik geht sehr gut, und es mögte kaum eine bessere in Deutschland geben. Außer den Quartettpartien gibt es hier jetzt auch noch mehrere Zirkel für Klaviermusik mit Begleitung, bei der ich meine Mitwirkung auch1a nicht versagen kann. Ich bin daher als Geiger fast noch nie so in Übung gewesen wie jetzt, obgleich ich seit einem Jahr das öffentliche Spielen aufgegeben habe. Daß ich in diesen Privatzirkeln, ohne eine Abnahme der technischen Gewandheit zu bemerken, noch so rüstig mit meinen Schülern concuriren kann, macht mich sehr glücklich und erheitert mein Leben, das noch stets, wie früher, ganz der Kunst gewidmet ist.
Daß Sie an nervösen Kopfreitz leiden und deshalb keine Musik mehr hören können, hat mich recht betrübt! Hoffentlich ist es aber nur1b ein vorübergehendes Übel und ich gebe daher1c die Hoffnung nicht auf, Ihnen meine neuen Sachen noch selbst vorspielen zu können. Am besten könnte dieß freilich geschehen, wenn Sie uns einmal wieder besuchten, was uns eine große Freude gewähren würde. Da nun bald die Eisenbahn nach Frankfurt vollendet sein wird2, so wäre es ja ein leichtes!
Herzliche Grüße an die lieben Ih[rigen.]
Mit wahrer Freundschaft stets ganz
 
der Ihrige
Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Speyer an Spohr, 26.11.1849. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 14.07.1855.
[Ergänzung 11.10.2017: Früherer Besitzer nach Notiz auf der Abschrift: „Original im Besitze des Herrn R. Sulzbach 18/5 77”.]
 
[0] [Ergänzung 23.11.2021:] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts oben der Poststempel „CASSEL / 29 / 11 / 1849“, rechts in der Mitte des Adressfelds befindet sich der stark verwischte Stempel „VERPÄTET[E] / AU[SFU]HR“.
 
[1] Dieser Brief ist derzeit verschollen.
 
[1a] [Ergänzung 23.11.2021:] „auch“ über der Zeile eingefügt.
 
[1b] [Ergänzung 23.11.2021:] „nur“ über der Zeile eingefügt.
 
[1c] [Ergänzung 23.11.2021:] „daher“ über der Zeile eingefügt.
 
[2] Der erste Streckenabschnitt wischen Kassel und Wabern zwurde zwar am 29.12.1849 eröffnet, der erste durchgehende Zug zwischen Kassel und Frankfurt fuhr jedoch erst am 15.05.1852.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (14.03.2016). Ergänzung von Druck 2 (11.10.2017). Nach Digitalisat auf Auktionshomepage kollationiert (23.11.2021).

Cassel, 29. November 1849.
 
... Je älter ich werde, je mehr werde ich mit Geschäften überhäuft. Die Zusendungen von Kompositionen, die ich beurteilen, von Anfragen, die ich beantworten soll, wollen gar kein Ende nehmen, so daß ich nur selten zu eigenen Arbeiten kommen kann. Meine Biographie habe ich daher erst bis zur italienischen Reise [1816-1817] fortführen können und seit unserer Rückkehr aus Karlsbad nichts neues geschrieben als ein Klaviertrio (das fünfte) und drei zweistimmige Lieder für Soprane. – Unsere Musikpartien haben auch wieder begonnen und ich spiele häufig meine letzten Kompsitionen der letzten Jahre, die Sie wahrscheinlich noch nicht kennen werden. Es sind dies zwei Quartette, ein Sechstett für zwei Violinen, zwei Violen und zei Violoncelle und ein Doppelquartett (das vierte). – Unsere Quartettmusik geht sehr gut und es dürfte kaum eine bessere in Deutschland geben. Außer den Quartettpartien gibt es hier jetzt auch noch mehrere Zirkel für Klaviermusik mit Begleitung, bei der ich meine Mitwirkung auch nicht versagen kann. Ich bin daher als Geiger fast noch nie so in Übung gewesen wie jetzt, obgleich ich seit einem Jahr das öffentliche Speielen aufgegeben habe. Daß ich in diesen Privatzirkeln, ohne eine Abnahme der technischen Gewandtheit zu bemerken, noch so rüstig mit meinen Schülern konkurrieren kann, macht mich sehr glücklich und erheitert mein Leben, das noch stets wie früher ganz der Kunst gewidmet ist.
Daß Sie an nervösem Kopfreiz leiden und deshalb keine Musik mehr hören können, hat mich recht betrübt. Hoffentlich ist es aber nur ein vorübergehendes Übel und ich gebe daher die Hoffnung nicht auf, Ihnen meine neuen Sachen noch selbst vorspielen zu können. Am besten könnte dies freilich geschehen, wenn Sie uns einmal wieder besuchten, was uns eine große Freude gewähren würde. Da nun bald die Eisenbahn nach Frankfurt vollendet sein wird, so wäre es ja ein leichtes! ...

[…] Meine Biographie habe ich […] erst bis zur italiänischen Reise fortführen können und seit […] Carlsbad nichts neues geschrieben, als ein Claviertrio (das 5te) und 3 zweistimmige Lieder für Sopran [… Es mache ihn glücklich, daß er als Geiger noch mit seinen Schülern konkurrieren könne.]