Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Druck: Simon Moser, Das Liedschaffen Louis Spohrs. Studien, Kataloge, Analysen, Wertungen. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Kunstliedes, Kassel 2005, Bd. 1, S. 60 (teilweise)
Inhaltsangabe: Folker Göthel, Thematisch-bibliographisches Verzeichnis der Werke von Louis Spohr, Tutzing 1981, S. 464

Schloß zu Ploen im Herzogthum Holstein
den 9t November 1839.

Hochwohlgeborner,
Höchstgeehrtester Herr General-Musikdirektor!

Es war im Mai 1839 als Ew. Hochwohlgeboren die so höchst liebenswürdige Güte hatten, die Bitte eines Ihnen so gut wie ganz Unbekannten, der nur flüchtig beim großen Musikfeste in Braunschweig die Ehre hatte Ihnen vorgestellt zu werden, zu berücksichtigen und in der Uebersendung eines von Ihnen so herrlich componirten Liedes von Victor Hugo – denn dieses einfache Werk schließt desto reicheren Werth in sich – ein jubelndes Entzücken bei einer interessanten geistreichen Dame1, für die es bestimmt war, hervorzurufen und bei mir, meine Freude und meinen Dank tief in die Seele zu schreiben, wo beide Gefühle vereint, nach einem ganzen Decenium auf das lebhafteste fortblühen. Späterhin verfehlte ich leider zu zwei Malen die Ehre Ew. Hochwohlgeboren in Kassel vorzufinden, war aber wiederum darnach so glücklich und möchte mich so gern mit der Hoffnung schmeicheln daß jene Augenblicke in Ihrer Erinnerung nicht verklungen sind, die für mich eine unauslöschlichen Werth haben.
Eingedenk Ihrer mir damals mündlich so liebenswürdig ertheilten Erlaubnis, obgeachtetes, von Ihnen so gütig komponierten Lied, dem Druck übergeben zu dürfen, sann ich in den vorübergeeilten Jahren stets einen passenden Augenblick dazu zu finden und so entschloß ich mich in voriger Woche bei meiner Anwesenheit in Hamburg den Herren Schuberth & Co es in Verlag zu geben, denn ich durfte mich auf Ihre gewogentliche Erlaubnis berufen und der für alles Schöne so begeisterte Herr Verleger war einig mit mir, daß diese liebliche Erscheinung nicht allein bestimmt sein solle in dem Verwahrschrein der beglückten Empfängerin zu ruhen, worin das werthvolle Manuskript von eigener Küstlerhand wie ein köstliches Heiligthum aufbewahrt wird, sondern auch von der kunstsinnigen Welt gekannt und empfunden werden müsse. Ich darf hoffen daß die Form in der diese Komposition erscheint Ihren Beifall finden wird und glaube vollkommen darüber beruhigt sein zu dürfen daß ich keine Indiscretion begangen habe.
Es war auf Ihrer reitzenden Villa vor Kassel und ich erinnere mich deutlich, noch Ihrer Zurückkunft von einer Reise in der Schweiz und dem südlichen Deutschland2, daß Sie auch die Gewogenheit hatten mich Ihrer Frau Gemalin vorzustellen. Ihr wird der für sie unbedeutende Augenblick entfallen sein, ich aber wage mich ihr mit Ehrfurcht zu empfehlen.
Möchten Ew Hochwohlgeboren die bewegte Zeit auf Ihren lieblichen Musensitze unangefochten in äußeren Beziehungen und ohne schmerzliche Berührung des Innenlebens vorübergegangen sind; doch wie sich für den letzteren Punkt in‘s besondere wünschen läßt, zieht doch die Welle des brausenden Weltstromes jedes Leben mit sich fort. Auf meine Hoffnung daß sich endlich einmal friedlich Alles lösen und Ruhe den Ländern wiedergegeben wird reiht sich die, in nächsten Sommer, wenn mir Leben noch blüht, eine Reise nach dem aller-schönen Rhein und namentlich nach meinem lieben Baden-Baden unternehmen zu können, wobei der Vorzug, persönlich aufs Neue die Ehre zu haben Sie in Kassel zu begrüßen, zu meinen freudigsten Aussichten gehört. Mein lieber verklungener Carl Maria v. Weber schrieb mir einst, es hat uns die Kunst im Leben vereint – und habe ich auch nicht die Vermessenheit dieses gewichtige Wort auf mich anzuwenden, so darf ich doch sagen daß der Sinn für die Kunst mein ganzen Seelen und Gefühlsleben zu Ihnen hergezogen hat und ich es als schmechelhafteste Auszeichnung ansehe mich zu meinen Ehre nennen zu dürfen:

Ew. Hochwohlgeboren
herzlich und innigst ergebener Verehrer
Ad. Fabritius de Tengnagel.

Autor(en): Fabritius de Tengnagel, Adolph
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Schuberth, Julius
Spohr, Marianne
Weber, Carl Maria von
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Lieder, Alt Kl, WoO 100
Erwähnte Orte: Baden-Baden
Braunschweig
Kassel
Erwähnte Institutionen: Norddeutsche Musikfeste <verschiedene Orte>
Schuberth <Hamburg>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1849110946

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Tengnagel an Spohr, 12.06.1839.

[1] Noch nicht ermittelt.

[2] Spohr besuchte 1841 das Musikfest in Luzern, wo sein Oratorium Des Heilands letzte Stunden aufgeführt wurde.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (04.11.2021).