Autograf: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. Sp. ep. 1.2 <18491105>
Beleg: Autographen. Historische Autographen, literarische Autographen, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler, Stammbücher. Versteigerung am 20., 21. und 22. Oktober 1926 (= Katalog Liepmannssohn 48), Berlin 1926, S. 174f.

Sr Hochwohlgeboren
Herrn Dr. Louis Spohr,
Kurfürstl General-Musik-Directorund
Ritter hohe Orden
in
Cassel.
 
franco0
 
 
Breslau d. 5 Novemb 1849
 
Mein hochverehrter Freund und Gönner!
 
Eine geraume Zeit ist wieder seit dem Empfange Ihres letzten Schreibens verflossen und da es für mich wieder die höchste Zeit ist, einer Zuschrift von Ihnen entgegenzusehen, so sollen diese Zeilen mir den Weg zu dieser Freude bahnen.
Herr Kriegsrath Gerte1, der mit Ihnen in Carlsbad viel zu verkehren das Glück hatte, überbrachte mir Ihre freundlichen Grüße, und das bestimmte Versprechen, daß Sie im nächsten Sommer mit Ihrem Besuche Ihr Wort endlich lösen wollen. Gott gebe, daß es Ihnen auch dann der politischen Verhältnisse wegen auch möglich wird; ich kann mich zwar nicht im entferntesten mit Ihnen als Politiker messen, aber ich glaube es sieht jetzt nicht gut aus, und fürchte Sie haben in Ihrem letzten Briefe recht gehabt. Die Verfassung, wie sie der König am 5. Dez. octroyirte, wurde hier sogar von Demokraten gelobt, die Art aber, wie sie jetzt berathen wird, will wohl nur wenigen gefallen, wohin uns das am Ende noch führen soll, mag Gott wissen. Was macht die Kunst? Haben Sie Ihre Biographie vollendet?2 Ich dirigire immer noch die Konzerte der Theaterkapelle, neulich gaben wir Ihre 3te Sinfonie in c-moll, die recht geistig belebt gespielt wurde. Auch Faust wurde neu einstudiert gegeben und ging gut. Zemire und Azor ist, wie ich höre, auch in Aussicht, worauf wir uns sehr freuen. Gern wäre ich nach Karlsbad gekommen, um mit Ihnen und mit Ihrer lieben Frau Gemahlin gemüthliche Tage zu verleben (und bei dieser Gelegenheit zum quod fis3 zu gehn), allein hier grassirte die Cholera so schrecklich, (es erkrankten an einem Tage 152 und starben gegen 90) daß ich meine Mutter, die anfällig und ängstlich war, nicht allein lassen konnte. In so gräßlicher Zeit lebt man lieber inmitten der schrecklichen Gewißheit, als entfernt davon, weil man da immer durch noch schrecklichere Vermuthungen mehr gepeinigt wird. Das Glockengeläut schwieg keine Stunde, Leichenbegängnisse traf man auf allen Schritten, Bekannte, die man noch am Abend gesprochen und ganz gesund gesehen, waren am andern Morgen schon tod, mit einem Worte, es war fürchterlich. Ganz verschwunden ist die Krankheit immer noch nicht, doch ist sie sehr unbedeutend, in dieser Woche starben 3 Personen daran. Ich habe mir 3 Diarrhoe-Anfälle mit dem Trinken ganz frischen Wassers kurirt; nichts stärkt und erwärmt nachträglich den Magen mehr als Wasser, während andere Mittel für den Augenblick erhitzen und doch nichts Reelles leisten. Sie sind doch wohl und munter? Hat Ihnen Karlsbad gute Dienste geleistet? Labitzki wird in diesen Tagen hier her kommen um sein Orchester zu produziren. — Werden Ihre Abonnementskonzerte wieder ins Leben treten? Wer ist denn bei Ihnen Musikdirektor an Baldeweins Stelle geworden? Bott ist Konzertmeister? - Gestern las ich auch daß Amtsrath Lüder den rothen Adler-Orden 3ter Klasse vom König von Preußen erhalten hat.4
Schreiben Sie mir nur recht bald und packen Sie mir ein paar Ihrer Geigentöne mit ein, wenn mein geistiges Ohr sie auch genau hört, so möchte ich’s dem leiblichen doch auch wieder gönnen. Herzliche Grüße an Ihre Frau Gemahlin und alle Bekannte.
 
Hochachtungsvoll
Ihr
dankbarer Verehrer
A. Hesse.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hesse, zwischen 13. und 31. Mai 1849. Spohr beantwortete diesen Brief am 19.11.1849.
 
[0] [Ergänzung 24.01.2022:] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts oben der Poststempel „BRESLAU / 4 / 11 / 3-4“, auf der Rückseite des gefalteten Briefumschlags befindet sich der Stempel „D.A / 6/11“.
 
[1] Aus Spohrs Reaktion in seinem Antwortbrief folgt, dass hier wohl der preußische Kriegsrat Christian Körte gemeint ist.
 
[2] Vgl. Spohr an Hesse, 08.05.1848.
 
[3] Lat.: „was du willst“.
 
[4] Vgl. „Berlin, 1. November”, in: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 01.11.1849, nicht pagniert.
 
[5] [Ergänzung 24.01.2022:] Hier gestrichen: „Ohr“.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (19.04.2016).