Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 33f. (teilweise)

Leipzig, den 30. März 1849.

Lieber Herr Kapellmeister.

[…] Es hat mich auch sehr gefreut zu erfahren, daß Sie ihre Biographie mit musikalischen Entre-Acten verfehen, wie das neue Quartett den ersten bildet; es ist auch ganz in der Ordnung mit Speise und Trank abzuwechseln, oder mit Predigt und Gesang. Wir haben einige recht interessante Aufführungen Mendelssohn'scher nachgelassener Werke (was doch eigentlich alle sind) im Gewandhaus gehabt. Die erste war die Musik zur Racine's Athalia1, welche wiederholt wurde2 und vor kurzem eine Aufführung des Lauda Sion3, einer Musik, die Mendelssohn für ein Kirchenfest in Lüttich 1846 geschrieben. Ich finde beide Werke vorzüglich schön, gediegen und stilvoll, jedes ganz in seiner Art was es sein soll, wie mir überhaupt scheint, daß in den späten: Arbeiten Mendelssohn's eine größere Schlichtheit, ein einfacherer Plan zu sinden ist, da sie sich mehr der Gattung unterordnen, als in jedem Moment etwas besonderes und persönliches sein wollen. Das Lauda Sion darf ich Ihnen, wenn Sie es noch nicht kennen sollten, für den Cäcilienverein empfehlen. Das Stück ist aber ganz für die Kirche, was man bei jeder andern Anwendung nicht wird vergessen dürfen, und daß ihm dann im Concertsaal etwas mangelt, was manche andere Kirchenmusik in der Kirche zu viel hat, ist gewiß viel mehr ein Lob als Tadel.
Der Geiger Ernst war jetzt hier, gab ein sehr wenig besuchtes Concert4, in welchem er außerordentlich schön spielte, und spielte darauf viel weniger schön in einem außerordentlich besuchten Abonnements-Concert; im ersten mußte ich ihn doch für den ersten der neuern Violinspieler halten. Aber er kann einmal in höchster Vollendung, ein anderes Mal sehr mangelhaft spielen, was ich früher auch schon bemerkt habe.5
Wagner soll das Project haben, das hiesige Conservatorium nach Dresden zu verlegen und will dann die Kapelle mit allen stehenden Heeren abgeschafft wissen6, — da wünsche ich ihm eine seiner Opern durch Conservatoriumschüler aufgeführt zu hören.

Autor(en): Hauptmann, Moritz
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Ernst, Heinrich Wilhelm
Wagner, Richard
Erwähnte Kompositionen: Mendelssohn Bartholdy, Felix : Athalia
Mendelssohn Bartholdy, Felix : Lauda Sion
Erwähnte Orte: Dresden
Leipzig
Lüttich
Erwähnte Institutionen: Cäcilienverein <Kassel>
Gewandhaus <Leipzig>
Konservatorium <Leipzig>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1849033033

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Hauptmann, 26.03.1849. Der nächste belegte Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Hauptmann, 22.04.1849.

[1] Vgl. Fr[anz] Br[endel], „Leipziger Musikleben“, in: Neue Zeitschrift für Musik 30 (1849), S. 69ff., hier S. 69f.; „Concert im Saale des Gewandhauses zu Leipzig zum Besten des Orchester-Pensionsfonds. Donnerstag, den 1. Februar 1849“, in: Signale für die musikalische Welt 7 (1849), S. 59.

[2] Vgl. F[ranz] B[rendel], „Leipziger Musikleben“, in: Neue Zeitschrift für Musik 30 (1849), S. 127; „Achtzehntes Abonnementconcert im Saale des Gewandhauses zu Leipzig. Donnerstag, den 1. März“, in: Signale für die musikalische Welt 7 (1849), S. 107.

[3] Vgl. „Concert zum Besten der hiesigen Armen im Saale des Gewandhauses zu Leipzig. Donnerstag, den 22. März 1849“, in: Signale für die musikalische Welt 7 (1849), S. 139.

[4] Vgl. Fr[anz] Br[endel], „Leipziger Musikleben“, in: Neue Zeitschrift für Musik 30 (1849), S. 136f., hier S. 136; „Concert von H.W. Ernst im Saale des Gewandhauses zu Leipzig. Sonntag, den 11. März 1849“, in: Signale für die musikalische Welt 7 (1849), S. 123.

[5] Vgl. Fr[anz] Br[endel], „Leipziger Musikleben“, in: Neue Zeitschrift für Musik 30 (1849), S. 136f., hier S. 137; „Neunzehntes Abonnementconcert im Saale des Gewandhauses zu Leipzig. Donnerstag, den 15. März 1849“, in: Signale für die musikalische Welt 7 (1849), S. 130.

[6] In einer Eingabe an den sächsischen Staat, die Wagner allerdings erst 1871 drucken ließ, forderte er tatsächlich die Verlegung des Konservatoriums nach Leipzig, offensichtlich jedoch nicht die Auflösung der Hofkapelle: „In Leipzig ist seit einigen Jahren, auf Grund eines Legats eines dortigen Bürgers, ein sogenanntes Conservatorium richtet und auch von Seiten der Regierung dort dotirt worden. Dieß Leipziger Institut kann zu erfreulicher Blüthe und zu wahrhaftem Nutzen für das ganze Land nur dann gedeihen, wenn es nach Dresden übergesiedelt und dem bedeutendsten Musikinstitute des Landes, der Kapelle einverleibt ist. Zulagen zu den ansehnlicheren Gehalten unserer bedeutendsten Instrumentalkünstler würden ohne übermäßige Kosten die berühmtesten Virtuosen Deutschlands der Schule als Lehrer gewinnen, unser ausgezeichnetes Orchester als bestes Vorbild und Schule für den fortgeschrittenen Zögling dienen [...]“ (Richard Wagner, „Entwurf zur Organisation eines deutschen National-Theaters für das Königreich Sachsen (1849)“, in: ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 2, Leipzig 1871, S. 307-359, hier S. 351f.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (20.01.2016).