Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Catlenburg am 23sten May 1848
Wie undankbar, mein innigst verehrtester Freund! mußte Ihnen erscheinen, daß der Ausdruck so tief empfundener herzlicher Dankverehrung Ihres lieben Schreibens vom 22t März d.J. und der so liebevollen Eigenen Auswahl der vortrefflichen e-Saiten erst jetzt nach 2 Monathen erfolgt! –
Die erste Veranlassung des Verschubes war der Wunsch, zugleich einiges hinsichtlich Ihres so dankbaren Schützlings Kömpel zu erwähnen, was ich nicht gern fremder Feder dictiren wollte, während dann die Erstarkung zu wieder eigener Federführung leider immer vergeblich auf sich warten ließ!1 – So daß diese Zeilen, – wie Sie es denselben nach wohl ersehen werden! – buchstäblich den ersten Versuch seit dem 15t Febrar nun bilden! –
In dem zum 28t März anstehenden 6t Nordheimer Abonnements-Concerte Ihr wundervolles 9tes Concert, alle 3 Sätze, ebenfalls aus dem Kopfe vorgetragen, war Kömpel gerüstet, u erst als Er desselben Tages zu der letzten Probe daselbst eintraf war wenige Minuten zuvor solches Concert von dem Magistrate untersagt, weil, – die unsinnige Aufregung jener Tage gegen die wohlhabenden u gebildeteren Einwohner einschließl. vieler rechtlicher Bürger-Familien characterisirend, – gedacht war, daß, wenn das Concert statt habe, die Fenster des erläuchteten Saales eingeworfen werden, und eine „Katzenmusik allgemeiner“ Ortsbelästigung gewähren würde! –
Ungeachtet Cavallerie u Infantrie zu dessen Abwehr ganz am Platze gewesen wären: so wollte man doch, – u ich glaube mit Recht, – alle Conflicte thunlichst vermeiden, u den Gemüthern Zeit lassen, von dem Fieber-Wahnsinn erst wieder zu genesen! – dessen Gefährlichkeit gerade in jenen Tagen daselbst unter anderm auch einem der achtbarsten u sicher gerechtesten, aber unbewußt wohl etwas schwachen Beamten unsers Landes Abends 2 Kugeln durch sein Arbeitszimmer gejagt hatte!! –
Sonach scheiterte nun auch das für Kömpels arme Familie zum 12t April mit mehrseitig großer Theilnahme vorbereitete Benefice-Concert leider wiederum! – für welches Er zum Vortrage Ihres IIt Concertes, bereits völlig gerüstet war! – u da vom 15t Apr. ab auch, – das Musik-Corps vertheilend, – andere Standquartiere bezogen wurden: so hörten nun auch alle weitern Proben-Vorträge auf; – u mit dem Wegfall dieses äußern Hebel trat sehr fühlbar doch auch wieder einige Schlaffheit in dem eigenen Fortüben ein, u die Nothwendigkeit tägl. Nachtreibens darinn. – Und in dem Wunsche darüber offen mich zu äußern u Ihren Rath über manches zu erbitten, lag der Grund, nicht gern dictirend fremde Feder benutzen zu wollen. –
Ihre geäußerte Besorgniß, daß die Zeitverhälttnise seiner dortigen Anstellung nicht förderlich seyn mögten, veranlassten mich zunächst wieder an Guhr zu schreiben; – da die Beschleunigung einer mehr äußern Anregung zur Thätigkeit bezwingenden Anstellung sehr wünschenswerth erschien; ich bin aber bis jetzt ohne Antwort geblieben. –
Ich versuchte nun, seinen Uebungs-Reitz durch ein ihm zu äußerndes ihm noch neues Genre zu erhöhen, was mir zugleich mehr Gewähr gab, seinen Fleiß zu prüfen, als der schon früher einstudirte Vortrag der Meisterwerke seines großen Lehrers das sicher erkennen läßt. – Zunächst wählte ich dafür Bach‘s berühmte Chaconne2; – u wenngleich Er die ersten Tage hindurch eingestand, zum Theile gar keinen Sinn heraushören zu können: so gingen ihm doch, – nach Forkel‘s richtigem Ausdrucke, – sehr bald „ganz neue Ohrengänge“3 dafür auf, u Er studirte nun wieder mit erneuertem großen Fleiße an dieser merkwürdigen Piece, auf dessen Solo-Durchführung so gar man Göthe‘s Ausdruck anwenden mögte: „wenn ich Bach höre, ist‘s mir immer als unterhielten sich die Harmonien unter einander!“4 – u es brachten diese schwierigen Uebungen ihn fühlbar weiter, namentlich im Wohlklange der Accord- und Doppelgriffe. –
Dann weihete ich David‘s Solo-Capriçen darann, die auch auf Uebung vorher ihm noch schwer werdenden Stricharten berechnet sind.
In eben dieser Beziehung u ins petto für Passagen leichter Bogenführung, hatte schon Litolff Vorzugsweise Beriots h-moll-Concert, Op. 32, empfohlen, bey welchem ich mich denn auch überzeugte, daß die Anwendung Ihrer vortrefflichen Schule auch auf derartige Compositionen, deren „Gehacke“-Intermezzos doch um vieles zu mildern vermöge. – Er fand sich sehr bald auch in diesen Styl, in welchem dieses Concert auch wohl zu dessen Vorzüglichkeiten mit gehören mag. – Weit mehr aber frappirte mich noch Vieuxtemps ebenfalls uns mit gesandtes 2tes Concert, Fis moll; u ich halte diese für das beste von allen mir bisher bekannt gewordene Violin-Compositionen dieses französisch modernen Genre‘s, wenn man auch einiges der „Meisen-Pfeiferey“ daraus wegwischen mögte! – übrigens doch ohne alle Charlatannerie u eckelhafte Kurpfuscherey; wenngleich sehr viel schwerer als Bériot. Auch weckte dessen sorgfältiges Einstudiren Kömpels Fleiß recht bemerkbar von neuem; u wenngleich manche Staccato‘s, rasch sich folgende volle Accorde pp, hie u da noch zu wünschen übrig lassen so würde Er doch auch dieses Concert, – eben wie jenes von Bériot, – auch öffentlich aus dem Kopfe zu spielen, bereits ziemlich unternehmen dürfen; – u, – da Vieuxtemps sehr kalt spielen soll, – das Adagio vielleicht ergreifender als dieser selbst! – Gelegenheit, diese höchst pikante Composition mit Orchester zu hören, werde ich nicht leicht erreichen, da es 25 verschiedene Instrumente erfordert! – die Tuttis ganz dramatischen Styls, – u selbst die Principale hie u da etwas stark romantische Schule, à la „Fliegender Holländer!“
Ich muß nun wieder auf etwas neues für ihn denken, für Unterhaltung dieses seines eigenen Uebungs-Reitzes in dieser Einsamkeit; u sehr dankbar würde ich Ihnen seyn, wenn Sie mir für solche Wahl einige Anleitung mögten geben wollen! – Sehr erwünscht würde mir dafür ein u anderes für die Violine ganz allein seyn; in welcher Art ich aber außer den Uebungen Ihrer vortrefflichen „Violin-Schule“, u außer jenen Bachschen und Davidschen Sachen nicht kenne. Einen derartigen Versuch von Möser jun. fanden wir, im Ultra-modenen Genre, ganz erbärmlich.
Sodann erdreistet Ihre so liebevolle Theilnahme für diesen hoffnungsreichen Schützling mich wieder zu der Bitte, geneigtest doch zwey g-, zwey d-, und zwey a-Saiten, zu den Ihrer großen Güte zu verdankenden e-Saiten passend, unter gefälliger Entnehmung des Betrags durch Post-Vorschuss, in gleich guter Qualität uns verschaffen zu wollen! – Selbst sein g war nun so durchgespielt, daß er auch solches bereits von meiner Violine einstweilen hat entnehmen müssen.
Wenn gleich jene Tage fieberhaft anstehender Aufregung auch in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, – zu Lindau und Wulften, – Katzen- u Fenster-Musiken pp hervorriefen, u selbst bis zu offen gewaltthätigen Niederhauen von 9000 Stück jungen Eichen bereits 14jähriger herrschaftl. Pflanzung führten, – auch einige Domainen dieser Provinz total spoliirt5 wurden pp: so wurde mein unwillkürliches Sicherheitsgefühl doch überall nicht gestört, auf der Basis des guten Einvernehmens, in welchem wir seit 28 Jahren zu unseren ländlichen Nachbarn, ungeachtet mancher aus den herrschaftlichen Pacht-Gerechtsamen hervorgehenden mannigfach schwieriger Berührungen, Gottlob immer gestanden haben; und wir haben uns auch nicht darinn gestäuscht, etwaigen Militair-Schutz der ein 14 Tage – 3 Wochen lang mehreren der größeren Höfe unentbehrlich und auch uns offerit wurde, unserer Seits unter der Hand verbitten zu dürfen.
Jetzt ist hier herum nun auch allgemeiner ruhigere Ueberlegung mehr und mehr wieder einheimisch. – Die Gefahr äußeren Krieges bliebt dagegen zweyfellos noch immer groß! – und etwa unbedacht schwärmerische Uebergriffe in Frankfurt, – à la Schluß-Anmaßungen des 50ten Ausschusses, und das 17r Reichs-Verfassungs-Projectes, – würden noch immer leicht allgemeines selbst inneres völlig unabsehbares Zerwürfniß und Unglück herbey führen können! – indem Deutschlands Volkssturm völlig zweyfellos dem sich noch weniger friedlich fügen würden, als die Fürsten selbst!! – Einstweilen befinden wir uns also noch immer auf einer vielfach bedrohlichen Vulkane! – Quod deus bene vertat!6 – in Sonderheit auch im Interesse der Kunst! –
Gar dankbar würde ich auch gelegentliche Erwähnung verehren, ob die Verhältnisse der uns gemeinschaftlich so theuren von Malsburgschen Familie bey dem Verlassen des Hofdienstes übrigens alldort ungestört geblieben sind! – was ich sehnlichst erhoffe! –
Die Feder will nicht mehr! so innig als unwandelbar
Ihr
dankbarer Verehrer
CFLueder.
G.N.S. So eben überrascht mich die Freude Ihres lieben Schreibens vom 22t. – Mit einer der nächsten Posten hoffentliche wenigstens theilweise Erfüllung der Wünsche des Herrn Engelhard. –
Autor(en): | Lueder, Christian Friedrich |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Engelhard (Katlenburg) Forkel, Johann Nikolaus Kömpel, August Möser, August |
Erwähnte Kompositionen: | Bach, Johann Sebastian : Partiten, Vl, BWV 1004 Bériot, Charles-Auguste : Konzerte, Vl Orch, op. 32 Vieuxtemps, Henri : Konzerte, Vl Orch, op. 19 Wagner, Richard : Der fliegende Holländer |
Erwähnte Orte: | Frankfurt am Main Northeim |
Erwähnte Institutionen: | |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1848052335 |
Der letzte erschlossene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Lueder, 22.05.1848. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Lueder, 26.05.1848.
[1] Lueder diktierte seinen letzten erhaltenen Brief vom 20.02.1848, den er nur unterschrieb.
[2] Aus: Johann Sebastian Bach, Partita Nr. 2, BWV 1004.
[3] Vgl. auch Lueder an Spohr, 26.01.1859.
[4] „Wohl erinnerte ich mich bey dieser Gelegenheit an den guten Organisten von Berka; denn dort war mir zuerst, bey wollkommener Gemüthsruhe und ohne äußere Zerstreuung, ein Begriff von Eurem Großmeister (Seb. Bach) geworden. Ich sprach mir‘s aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich ‘s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben. So bewegte sich‘s auch in meinem Innern und es war mir als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte“ (Johann Wolfgang von Goethe, Beilage zum Brief an Karl Friedrich Zelter, 17.07.1827, in: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832, hrsg. v. Friedrich Wilhelm Riemer, Bd. 4, Berlin 1834, S. 337-342, hier S. 337f.).
[5] „spoliiren, berauben, plündern“ (Friedrich Erdmann Petri, Gedrängtes Deutschungs-Wörterbuch der unsre Schrift- und Umgangs-Sprache, selten oder öfter entstellenden fremden Ausdrücke, zu deren Verstehn und Vermeiden, 3. Aufl., Dresden 1817, S. 436).
[6] Lat.: „was Gott zum Guten wenden möge“.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.07.2024).