Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sr. Hochwohlgeboren
Herrn General-Musikdirector Dr. Spohr
in Cassel

fr.1


Hochgeehrtester Herr General-Musikdirector!

Empfangen Sie zu Ihrem Geburtstage meine allerherzlichsten Glückwünsche! Möchten Sie deren noch recht viele froh erleben u eben so viele glückliche Jahre. Zu meiner größten Freude lese ich sehr oft, die es in musikalischen oder andern Blättern, theils über Musikaufführungen in denen Sie betheiligt, theils über Herausgabe neuer Werke oder sonstige Nachrichten die Sie berühren, so daß ich doch nicht ganz aus dem Zusammenhang des Wirkens u Schaffens des so verehrten u geliebten Meister komme u die mir zugleich der beste Beweis seines Wohlseins sind.
So habe ich mit gleicher Freude die Ankündigng Ihres 4t Trios, so wie die des Quartett-Concerts vernommen, dann die Dedication eines Trios von Mendelssohn, dessen Verlust auch Sie schmerzlich berührt haben wird. Ich erinnere mich noch ganz deutlich auf einem Musikfeste in Braunschweig, es war um dieselbe Zeit als Sie in Norwich des heilands letzte Stunden aufführten, mit welcher begeisterung er von Ihnen sprach und wie hoch er sie verehrte. Nun ist er schon geschieden! Auch aus Paris las ich von verschiedenen Aufführungen Ihrer Werke wie die der 4t Sinfonie, Nonett u Octett pp. Ich hoffe daß die gegenwärtig2 bewegten Zeitumstände Sie nicht unangenehm berühren mögen; sie deuten auf Sturm. Jedoch ein Caracter wie der Ihre, dessen Lebens u Welt-Ansichten so fest begründet sind, u dessen Erfahrungen so groß sind, der überidieß weit erhaben über dem gewichtlichen(?) Welttreiben steht, den können Ereignisse wie die letzten nur wie eine nothwendige Folge des Weltfortschrittes sein. Innerlich bleibt er ruhig.
Was mich nun betrifft, so geht es noch recht gut. Ich nehme mich der Musik hier recht an u ich habe meine Freude darüber, wenn ich die Fortschritte bemerke. Ich betrachte mich wie einen musikalischen Missionär, der immer unendlich im Bekehren ist. Freilich entbehre ich selbst am Meisten, denn die Musik von größtentheils Liebhabern, so sehr sie sich auch gebessert hat, kann natürlich mich nicht befriedigen. Selbst die Musik im Haag, in Amsterdam u Rotterdam, die ich bis jetzt gehört habe: sie ist recht gut, allein es fehlt mir die geistige Auffassung. Sie ist wie eine köperlich schöne Gestalt der die Seele fehlt. Und es kommt mir auch alles so viele Leben vor. Es ist viel Materialismus. Vielleicht daß die kaufmännischen Beschäftigungen die Poesie verschwinden machen u das das Klima u die Sprache nicht wenig dazu beitragen. In diesem Winter habe ich die Gesangsscene auswendig u mit vielem Glück gespielt u eine Fantasie von mir. Außerdem ist meiner 6t Ouverture Pastorale mit vielen Beifall nebst verschiedenen andern Compositionen aufgeführt. Ich m öchte mich wohl an eine Sinfonie wagen. Darf ich Ihnen den Plan davon zusenden? Und würden Sie mir mit gutem Rath zu einem solchen Unternehmen beistehen? Indem mir nur meine täglichen Beschäftigungen etwas mehr Zeit u Ruhe überließen, so hoffte ich schon etwas zu Tage zu fördern; jedoch so sind die der Muße gewidmeten Stunden selten. Man kann nicht über sein Leben so disponiren wie man gern möchte u jemand der sein Bestes thut u dies gern ghut, erfüllt auch seine Pflicht und macht sich nützlich. Haben Sie Mitleid mit mir und meiner Philosophie.
Indem ich nun bitte hochverehrtester Herr Generalmusikdirector daß Sie meine flüchtige Schrift und mein Geplauder entschuldigen u daß Sie mir, wenn es Ihnen möglich ein Paar freundliche Worte entgegnen, empfehle ich mich Ihnen so wie Ihrer lieben Frau auf das Allerbeste.
Mit größter Hochachtung u mit treuer Ergebenheit

Ihr gehorsamster u dankbarer Schüler
Ferdin. Böhme

Dordrecht den 2ten April 1848.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Böhme an Spohr, 02.04.1847. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Böhme an Spohr, 02.10.1848.

[1] Links oben auf dem Adressfeld befindet sich der Poststempel „DOR[DR]ECHT / 3 / 4 / FRANCO“, in der Mitte des Adressfelds befindet sich der Stempel „Francotout“, unter dem Adressfeld befindet sich der Stempel „EMMERICH / [4] / 4“.

[2] Hier am Wortende gestrichen: „e“ oder „en“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (05.10.2020).