Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Mein verehrtester Meister!

Nicht länger mehr kann ich dem Drang meines Herzens widerstreben, wieder einmal ein paar Zeilen an Ew. Wohlgeboren zu richten. Ist und bleibt es doch eine meiner schönsten Wünsche, Ihnen nahe, so nahe wie möglich sein zu können. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird aber dieser fromme Wunsch – eben ein frommer Wunsch bleiben, denn ich sehe in der That selbst nicht ein, auf welche Weise er realisirt werden könnte. Zwar ist mir schon oft das Project durch den Kopf gegangen, mich in Cassel anzusiedeln, und die Ausführung desselben wäre auch keineswegs etwas Unmögliches, allein von einer andern Seite betrachtet, hat es, und namentlich in meinen jetzigen Verhältnissen, wieder etwas sehr Mißliches. Doch zuerst von Etwas Anderem. Vor Allem wünsche ich, daß Sie u. Ihre Frau Gemahlin in erwünschtem Wohlsein sich befinden mögen, wünsche u. bete, der gütige Himmel wolle Sie uns u. der Welt noch lange, lange in rüstiger Kraft erhalten. Was haben Ew. Wohlgeboren in neuerer Zeit Großes u. Schönes geschrieben? Sie werden mir freundlichst diese Frage entschuldigen. Ist mir es doch in meinen Verhältnissen nicht vergönnt, nur den hervorragendsten Erscheinungen in der Kunstwelt zu folgen. Ich bin beschränkt auf das, was ich von Andern höre oder aus den Zeitungen lese, und das ist doch sehr dürftig. Werden Sie uns nicht bald wieder mit einer großen Symphonie, einer Oper, einem Oratorium oder Quartetten erfreuen? – Am Mittwoch den 26ten Jenner wurde in hiesigen Singverein wiederholt Ihr großes Oratorium „Die letzten Dinge“ zur Aufführung gebracht. Ich wollte Sie hätten es hören können; es ging in der That vortrefflich. Ich glaube auch kaum, daß dieses Werk irgendwo anders mit mehr Liebe einstudirt u. erfasst worden sein kann, als hier. Ein Beweis dafür ist, daß es seit 3 – 4 Jahren alljährlich mindestens 2 Male zu Gehör gebracht worden ist. Und immer ist es mit steigendem Interesse aufgenommen worden, je mehr man sich in das Innere zu versenken vermochte. Mein Quartettverein, von dem ich Ew. Wohlgeboren früher erzählte, u. der sich so heraufgearbeitet hatte, daß wir zuletzt alle Quartette von Ihnen, selbst die schwersten vorzutragen vermochten, hat sich leider! aufgelöst. Der Cellospieler1 ging zu weiterer Ausbildung nach Dresden zu Kummer. So hab' ich dies, was mir hier so Vieles, was ich entbehren muß, ersetzte, wieder verloren. Alles ist vergänglich! Tempora mutantur.
Was nun mich selbst betrifft, so erlauben Sie mir auch noch ein paar Worte. Ich lebe der freudigen Überzeugung, daß Sie immer noch Theil an mir nehmen.
Manches, ja Vieles ist in meinen Verhältnissen anders geworden, ob es besser geworden, das muß die Zukunft enthüllen.
Zuerst muß ich Ew. Wohlgeboren melden, daß ich ein ungeheuer großes Thier geworden bin, nämlich der Großherzog hat mich zum Professor gemacht; zum Professor gemacht, um mir, der ich mehre Male dringend um Besoldungsverbesserung gebeten, das Maul zu stopfen. Zwar hat man mir auch einen kleinen Zuschuß zukommen lassen, aber so gering, daß er nicht in Betracht zu ziehen ist und mich keineswegs in den Stand setzt, meine Kräfte mehr als bisher zu entfalten. Zweitens hab' ich eine Frau genommen. Eine Frau in solcher Stellung? werden Sie sagen! Ja, mein verehrtester Meister, der Mensch bildet sich viel auf seine Freiheit ein, allein beim rechten Lichte betrachtet, ist es soweit nicht her damit. Der Mensch ist u. bleibt ein von tausend Dingen abhängiges, bedingtes Wesen. Und dann hat auch eine Künstler-Natur immer Etwas Appartes. Kurz ich hab' eine Frau u. meine Frau ist ein sehr schönes, gutes, liebes Wesen.
Was schließlich meine Leistungen in der Kunst anlangt, so dürften sie Werth haben, oder auch nicht, je nach dem Standpuncte von welchem man aus sie betrachtet. Eine Symphonie, ein Oratorium oder dergl. hab' ich nicht geschrieben. Allein etwas Anderes hab' ich zu Stande gebracht, was mir wol einen Namen u. sichern dürfte, wodurch ich wol auch meine Verhältnisse vortheilhaft umzugestalten vermöchte, wenn ich an einem andern Orte (da denke ich immer wieder an Cassel) lebte.
Mir ist es nämlich gelungen, eine Wissenschaft der Musik zusammenzubringen, die Kunst in Tönen zu denken auf ein einziges u. unfehlbares Gesetz zurückzuführen u. somit wirklich eine2Kunst in Tönen zu denken“ zu erfinden.
Mit einem Worte, ich habe eine ganz neue, ganz andre Theorie der Musik entdeckt, die von der bisherigen hinsichtlich ihrer Methode auch gar nichts gemein hat u. so einfach u. natürlich ist, daß sich Jedermann das, was zur Grammatik u. Syntaxis der musikalischen Sprache gehört, in höchstens einem Vierteljahre u. zwar vollständig zu eigen machen kann. Es ist in der That keine Prahlerei u. Charlatanerie. Ich würde mich darin Ew. Wohlgeboren gegenüber auch sehr miserabel ausnehmen. Ich versichere Ew. Wohlgeboren die Sache hat Grund. Ist z.B. das nicht interessant, ein Gesetz zu haben, nach welchem sich mit innerer Nothwendigket u. unaufhaltsam und bestimmt aus dem Ton der3 Accord, aus dem Accorde der einfache Satz, aus dem einfachen Satz die Periode, aus der Periode das große musikalische Satzganze entwickelt? Ist es nicht herrlich, für jede nur mögliche Modulation aus einer Tonart in eine andere nur ein einziges Gesetz zu haben u. nach diesem Gesetz eine unendliche Anzahl von Sätzen bilden zu können oder vielmehr sich bilden zu lassen, weil es weiter nichts bedarf als eines Anstoßes, einer Bewegung des Gesetzes um zu einem Gedanken zu kommen? Denn es trifft hier das alte Naturgesetz zu, daß jedes Ding nur erst einmal in Thätigkeit gesetzt zu werden braucht, u. es entwickelt sich fort u. fort bis eine hemmende Macht dazwischen tritt. – Selbst meine Accord- u. Harmonienlehre ist von der bisherigen wesentlich oder total verschieden. Ich weise nach daß man in der bisherigen Theorie noch nicht einmal zu bestimmen gewusst hat, was zum Wesen eines einfachen Accords (gewöhnlich Dreiklang genannt) gehört; ferner die alte Theorie weiß noch nicht, wie der sogenannte Hauptvierklang entstanden ist; sie erklärt nicht wie sich Moll zu Dur verhält, was Moll im Verhältniß zu Dur ist; sie erklärt nicht, wie folgende Tonverbindungen möglich sind z.B.

[Notenbeispiel 1]

sie setzt wissenschaftlich nicht auseinander, wie von einem bestimmten Accord aus Bewegung u. Entwicklung zu einem Satz u. endlich der Schluß möglich ist etc. etc. O ich könnte noch tausend Fragen thun u. tausend Dinge anführen, die bis jetzt theoretisch, wissenschaftlich noch ganz und gar im dunkeln liegen.
Des Erfolgs meiner neuen Theorie bin ich gewiß; ich habe sie seit 1½ Jahren im hiesigen Seminar vorgetragen (obgleich ich bis jetzt noch kein Wort aufgeschrieben habe, so ist sie doch in Folge des Unterrichts, den ich dazu am Seminar zu ertheilen Gelegenheit hatte, bis in das Kleinste fertig ausgearbeitet u. ich bin über nichts mehr in Zweifel) und selbst bei den schwächsten Subjecten zum Ziele gekommen.
Dieser Gegenstand ist es nun, der mich seit ein paar Jahren beinahe ausschließlich beschäftigt hat. Und ihn möcht' ich der Welt vorlegen, eben auch für mich Nutzen daraus ziehen. Von hier, von Eisenach aus wird das aber schwerlich mit dem rechten Erfolg bewerkstelligt werden.4 Ich müsste in einer Stadt wie Cassel sein u. da eine Art Conservatorium für solche, welche die Composition studiren wollen, anlegen können. Ich hatte schon einmal die Absicht, nach Cassel kommen u. darüber einige Vorlesungen halten zu wollen, aber es ging u. geht nicht. Ich bin hier gar zu sehr durch meine Verhältnisse an die Scholle gebunden. Ich werde daher wol warten müssen bis ein günstiger Umstand einmal meine Verhältnisse ändert, u. mir eine andere Stellung in einer andern Stadt bescheert.
Was meinen Sie wol, verehrtester Meister, auf welche Weise es wol anzufangen wäre, um mit meiner Theorie am erfolgreichsten herauszutreten? Zweierlei fehlt mir 1.) die Kenntniß der französischen u. englischen Sprache. Besäß ich diese, so ginge ich gleich nach London oder Paris; u. dann fehlt mir Geld. Hätte ich das, so könnte ich mich wenigstens in einer der größern Städte Deutschlands niederlassen pp. Dieses Jahr werde ich dazu anwenden, mein Werk vollständig auszuarbeiten. Darf ich es Ew. Wohlgeboren dann einmal vorlegen? Ein Wort aus Ihrem Munde darüber würde allein mir schon Bahn brechen. –
Mit der Bitte, mich wegen meines langen Briefes gütigst entschuldigen zu wollen bin ich

mit der alten Verehrung und Liebe
Ew. Wohlgeboren
ganz ergebenster

F. Kühmstedt

Eisenach am 1t Fbr
1848.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Kühmstedt, 07.03.1847. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Kühmstedt, 07.09.1848.

[1] Noch nicht ermittelt.

[2] „Eine“ über gestrichenem „Die“ eingefügt.

[3] Hier ein oder zwei Buchstaben unleserlich gestrichen.

[4] Hier gestrichen: „konn“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (30.07.2020).