Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Braunschweig, den 22. November 1847.

Hochzuverehrender Herr General-Musikdirector!

Unseren wackeren, wahrscheinlich auch Ew. Hochwohlgeboren schon durch öffentliche Blätter rühmlichst bekannten Geiger Hohnstock (einen ebenbürtigen Rival Ihres Jean Bott) kann ich unmöglich nach Cassel ziehen lassen, ohne ihm ein Paar Zeilen an den mitzugeben, dem doch seine Reise dorthin hauptsächlich gelten soll.
Ich benutze diese Gelegenheit zu einer solchen Mittheilung um so lieber, weil ich eine andere, noch geeignetere, im Anfang dieses Jahres, leider! unthätig habe vorüber gehen lassen müsssen, – nämlich die Ihres Jubiläums.1 So lebhaften Antheil ich auch an diesem hocherfreulichen, festlichen Ereignisse aus der Ferne genommen habe, so verhinderte mich doch eine heftige Nervenkrankheit, welche mich damals befallen hatte, Ihnen auch meinen Glückwunsch, wenn auch nur schriftlich darzubringen. Das darf ich deshalb, nach völliger Wiederherstellung, auch jetzt wohl noch thun und thue es mit um so bewegerem Herzen, da erst im Anfange dieses Monats der Tod uns den liebenswürdigen Mendelssohn in kaum erreichten Mannesalter entrissen hat. Denn Blicke und Herzen aller, welche in der Tonkunst noch nicht, wie jetzt leider! die große Mehrheit, dem Radicalismus und Rococo(???) huldigen, müssen sich von einem so beklagenswerthen Verluste nur um so vertraensvoller nach Ihnen hinwenden, und mancher der Gratulanten von 20. Januar d.J. wird schon im Stillen oder laut seine Glückwünsche wiederholt und den hinzugefügt haben: daß der Himmel in Ihnen der deutschen Tonkunst desto länger erhalten und so zugleich ersetzen möge, was er ihr in dem Entschlafenen zu früh genommen hat!
Was wir in musikalischer Hinsicht an Mendelssohn verloren haben2, ob ihn nicht (wie mache Stimmen schon jetzt behaupten wollen) das Glück selbst durch einen für seinen Ruhm nicht zu frühzeitigen Tod begünstigt –, ob sich alle seine Werke bei der Nachwelt auf der Stufe des Beifalls halten werden, auf welche er sie durch den Einfliuß seiner Persönlichkeit bei der Mitwelt zu haben verstanden habe? – darüber darf ich mir freilich kein Urtheil, am wenigsten in diesem Briefe, erlauben. Allein schon sein Nachlaß scheint wenigstens zu beweisen, daß er sich selbst noch nicht auf dem Hohepuncte seines Schaffens glaubte, und daß er besonders noch an einem Werke arbeitete, auf dessen Vollendung er gewiß erst seine besten Lebenskräfte verwendet haben würde; ich meinen seinen: Christus, von welchem wenn er ihn vollendet hätte, auch wohl an Rochlitz ebenso geurtheilt haben würde, wie er von den Letzten Dingen geurtheilt hat: daß (so viel ich mich erinnere) seit Bach und Händel kein schöneres Oratorium geschrieben sei!
Was Sie aber an Mendelssohn verloren haben, weiß ich aus seinem eigenen Munde, jedenfalls den aufrichtigsten Freund, der stets nur mit der unbedingtesten Hochachtung und Verehrung von Ihnen und Ihren Werken sprach. Auch werden unter den beiderseitigen Compositionen in Ihrer Claviersonate und sein zweites3 Trio für Kunstfreunde und Kunstkenner stets ein besonderes Interesse schon deshalb behaupten, weil sie als beredte Zeugen dieser Freundschaft gelten können, an deren Vergleichung sich eine nicht minder interessante, allgemeine Parallele zwischen Ihnen und ihm – wie er sich bestrebt habe, Ihnen in gröndlichster Kenntniß und stregster Reinheit des Satzes zu gleichen, auf allen Feldern der Tonkunst seine Kräfte zu bewähren müssen – anknüpfen und bis in die kleinsten, ähnlichen Züge des bürgerlichen, geselligen und Familien-lebens verfolgen ließe, wobei die mir selbst von beiden wohlbekannte Pünctlichkeit in der Beantwortung von Briefen, wo4 es dieser bedarf, ebenso wenig vergessen werden dürfte, als daß Sie beide Ihr Glück vor allem im häuslichen Kreise gesucht und gefunden haben. Und nur darin würde, was die Frau Gemahlinen anlangt, eine kleine Verschiedenheit obwalten, daß Mendelssohn’s – übrigens bekanntlich höchst liebenswürdige – Frau, wie er mir vor noch nicht langer Zeit einmal im Scherze klagte, in der Musik nichts lieber höre als – Bellini, der doch, so viel ich weiß, nicht ganz nach dem Geschmacke Ihrer Frau Gemahlin ist!
Da ich nun bei dieser glücklich angelangt bin, so erlaube ich mir nur noch, ihr (neben meiner geringen Wenigkeit) vor allem Ihre Gesundheit zu empfehlen, unter anderen auch deshalb, damit ich am 1. August 1849 nachholen kann, was ich am 20. Januar d.J. versäumt habe, – darf, was die hiesigen musikalischen Ereignisse und Zustände betrifft, von der Zeit gedrängt, diesesmal wohl auf die wunderlichen Mittheilungen der Geschwister Hohnstock Bezug nehmen, – und verharre mit der angelegentlichen Bitte, mir Ihr freundschaftliches Andenken zu erhalten,

Ew. Hochwohlgeboren
ganz ergebenster
EOtto.

Hohnstock, welcher vorgestern Abend mit diesem Briefe nach Cassel reisen wollte, hat, auf Littolft’s Rath, seinen Plan geändert und ist gestern Abend direct nach Amsterdam gereist, um dort und in den übrigen größeren Städten Hollands in diesem Winter zu versuchen. Meinen Brief, so nhaltsleicht, um dort abgehen zu lasse, sollte ich fast Bedenken tragen, und nur, um von unserer wichtigsten musikalischen Neuigkeit Ihnen doch etwas mitzutheilen, (so erlaube ich mir, den Text zu Litolfschen Oper beizufügen, nach welchem aber (das Beste darin ist ohnehin noch von Klingemann) die Musik des sehr genialen, der deutschen Sprache aber nicht mächtigen Componisten durchaus nicht beurtheil werden darf.

24. November 1847. O..

Autor(en): Otto, Eduard
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Bott, Jean Joseph
Hohnstock, Carl
Litolff, Henry
Mendelssohn Bartholdy, Cécile
Mendelssohn Bartholdy, Felix
Spohr, Marianne
Erwähnte Kompositionen: Mendelssohn-Bartholdy, Felix : Trios, Vl Vc Kl, op. 66
Spohr, Louis : Sonaten, Kl, op. 125
Erwähnte Orte:
Erwähnte Institutionen:
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1847112246

Spohr



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Otto an Spohr, 21. und. 23.05.1846.

[1] Spohrs 25-jähriges Dienstjubiläum in Kassel (vgl. Druck: [Friedrich Oetker], Spohr’s Jubel-Fest im Januar 1847, Kassel 1847).

[2] Felix Mendelssohn Bartholdy starb am 04.11.1847.

[3] „zweites“ über der Zeile eingefügt.

[4] Am Wortende gestrichen: „bei“

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (24.05.2022).