Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sr. Wohlgeboren
Herrn Generalmusikdirector, Hofrath Dr. Spohr
in
Cassel

frei.1


Dordrecht den 2ten April 1847.

Hochverehrtester Herr Kapellmeister!

Empfangen Sie zu Ihrem Geburtstage meine herzlichsten Glückwünsche und gebe der Himmel dass Sie in gewohnter Kraft und Thätigkeit noch recht lange zum Glück u zur Freude der Ihrigen und zum Wohle der Kunst fortwirken mögen!
Für die unaussprechliche Freude die Sie mir durch ihren lieben Brief gemacht haben, danke ich Ihnen mit gerührtem Herzen. O! wüßten Sie doch wie sehr ich Sie liebe u verehre u wie so ganz uneigennützig. Wie, wäre daß eine reine Zuneigung, wenn ich ein Intresse dabei hegte? Erlaubt es daher Ihre Zeit u Ihre Beschäftigung lieber Herr Kapellmeister, mich mit einem Brief zu erfreuen, so darf ich Ihnen sagen, daß ich mich glücklicher als ein König fühle. Demnach möchte ich Ihnen keine so kostbare Augenblicke rauben, u ich harre geduldig. Gaben Sie doch bereits so unendlich viel für mich gethan u bin ich doch von Ihrem Wohlwollen u Ihrer Güte gegen mich fest überzeugt u weiß ich dass Sie für mich thun was Ihnen möglich ist.
In den Zeitungen habe ich Mancherlei über Sie gelesen. Ihre Historische Symphonie ist in Amsterdam kürzlich aufgeführt u soll sehr gut ausgefallen sein.2 Ferner dass Ihnen Herr Mendelssohn sein 2tes Trio dedizirt u dass Sie zum Ehrenmitgliede der belgischen Musikgesellschaft ernannt sind. Über Ihr Jubiläum las ich unter andern, dass sie in Seesen geboren wären. So heißt es auch in verschiedenen Conversationslexicon, allein ich weiß speciel von Ihrem seelgen Vater u ganz besonders von Ihrer seelgen Mutter dass Sie in Braunschweig geboren u ohngefähr 1 ½ Jahr alt waren, als Ihre Eltern nach Seesen zogen. Es wäre doch recht gut wenn dieser Irrthum auch publicirt würde. –
In diesem Winter haben wir Hr. Thalberg 2 mal, Littolf u Léonard u verschiedene andere Künstler in unsern Concerten gehabt. Im letzten wo Hr. Thalberg hier war, spielte auch ich 2 mal und mit vielem Glück. Ich habe recht wahrgenommen welche Gewalt eine Violine im Vergleich zu einem Piano auf die Zuhörer auszuüben im Stande ist, denn während Hr. Thalberg ganz vollkommen u mit einer so bewunderungswürdigen Meisterschaft spiele u ich im Vergleich zu ihm sehr schlecht u in Seinem Betracht(???), so habe ich nicht minder Effect gemacht als er. Ich kann dieses nicht anders erklären, als daß ich es der Violin oder dem gänzlichen Mangel von Beurtheilung der Zuhörer, die ihrem Gefühl folgen, zuschreibe.
Ueber die Ouverture von mir die in Rotterdam aufgeführt ist (nicht die 6t, die 8t) u über deren Ausführung man mir Gutes schrieb, ist eine Kritik u Antikritik u nochmalige Erwiderung gekommen, die so weit geht, daß man zweifelt ob ich die componirt oder ein Hr. Ferdin. Böhme am Leipziger Conservatorium.3 Da ich in solchen Sachen noch neu bin, so war ich außerordentlich erschrocken; wie ich jedoch den wahren Grund dieser Kritik erfuhr, mir meines redlichen Strebens bewußt, bin ich nach wie vor ruhig.
Wenn ich für später an Ihrer Güte hochverehrtester Herr Kapellmeister wieder einen Brief hoffen darf, u. möchte ich Sie bitten mir mit guten Rathe zu Hülfe zu kommen. So habe ich einige andre Zweifel über den alten und neuen Alle Breve Takt gehabt. Im Kirnberger habe ich manches weiter gefunden, doch nichts entscheidendes. Woran läßt sich der alte, woran der neue erkennen? Ferner wenn Metronombewegungen vorkommen z.B. Alla C‘ [Halbe] = 96. sind dann Halbe oder Viertelschläge zu nehmen? Eben so im Recitativ. Sind zb. wenn bloße Accorde drin vorkommen, dieß auf die zeit zu taktiren, wo sie stehen u ist es nicht gut, immer einen Schlag vorher zu geben? In allen solchen Sitten die mir in Paris vorkamen habe ich mich meiner Einsicht u meinem Gefühle über lassen. Dennoch möchte ich gern wissen ob es keine allgemeine Regeln auch in solchen kritischen Sitten für einen Musikdirector giebt, oder ob kein Buch existirt, das diesen Gegenstand behandelt? Ich habe oft so verschiedentlich dirigiren sehen, daß ich wünsche Ihre Meinung im Allgemeinen zu erfahren, die ich denn leichter für besondere Sitte anwenden kann.
Für die Nachricht Ihrer letztern Compositionen danke ich Ihnen noch besonders. Sie vermehrt meine Cataloge bedeutend und ist mir Beweis Ihrer unausgesetzten Thätigkeit. Einen solchen Gedanken wie der: eine Concertante mit Orchester zu schreiben und ihn eins zu führen, war Ihnen überlassen. Man ist gewöhnt gro´ßartiges u Vorzügliches von Ihnen zu hören!
Indem ich mich Ihnen u Frau Hofkapellmeister ganz gehorsamst empfehle, bitte ich um Verzeihung für mein langes Geplauder. Ich denke immer die größten u berühmtesten Männer, sind auch die aufrichtigsten. Leben Sie herzlich wohl Herr Kapellmeister u nehmen Sie die Versicherung meiner unbegrenzten Hochachtung u Verehrung u meiner innigsten Liebe an.

Ihr dankbarer
Ferdin. Böhme.



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Böhme, 18.02.1847. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Böhme an Spohr, 02.04.1848.

[1] Links oben auf dem Adressfeld befindet sich der Poststempel „DORDRECHT / 3 / 4“, rechts oben auf dem Adressfeld befindet sich der Stempel „Franco tout“, links über dem Adressfeld befindet sich der Stempel „6 APR“.

[2] „[Dat het twaalfde Caecilia-Concert]“, in: Algemeen Handelsblad 15.03.1847, S. [4].

[3] Noch nicht ermittelt.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (02.10.2020).