Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 27f.

Leipzig, den 7. Febr. 1847.
 
Lieber Herr Kapellmeister,
 
Für Ihre gütige Bereitwilligkeit unserem Jungen Pathe sein zu wollen sagen wir Ihnen allerherzlichsten Dank. Die Taufe soll am 12ten d. am Geburtstage meiner Frau vor sich gehen. Die von Ihnen gewünschte Ouvertüre zu Struensee von Meyerbeer war zur hiesigen Aufführung aus Dresden von Hiller geliehen.1 Es ist das erste größere Instrumentalstück was wir von Meyerbeer gehört haben, es kann auch deßhalb schon einem musikalischen Publicum von Interesse sein. Von Eitelkeit interessant sein zu wollen strotzt es freilich auch wieder, man wird wie bei all' seinen Compositionen auch hier den Componisten nicht einen Augenblick los.
Das Weltgericht, was ich nur in sehr früher Zeit und nicht einmal vollständig damals gehört hatte, wurde hier im vergangenen Jahre unter Schneider's Direction gegeben, es war das 25jährige Jubiläum des Werks, ich glaube kaum, daß es ein 50jähriges erleben wird; es ist doch gar zu viel ordinaires darin und diese gedichteten und erdichteten Satans und Höllentriumphe wollen doch auch in ihrer poetischen Unwahrheit keinen rechten Effect mehr machen. Es ist eben so abgeschmackt wie die Flachsperrücken-Teufel2 im Don Juan, von denen sich Mozart und die italienischen Dichter auch nichts hätten träumen lassen, das sind deutsche Blocksberg-Zuthaten. — Um eine Passionsmusik bin ich auch in jedem Jahre von neuem verlegen. Da sie bei uns zum Gottesdienste gehört, muß sie eben auch den Passions-Inhalt selbst haben. Es ist früher mit den sieben Worten und dem Graun'schen Tod Jesu jahrweis abgewechselt worden, zu letzterem aber kann ich mich gar nicht entschließen und die sieben Worte, welche wir vor zwei Jahren erst hatten, mag ich auch nicht so bald wieder bringen; so ist diesmal die Wahl auf Astorga's Stabat Mater gefallen. Die Musik ist etwas alterthümlich und an einzelnen Stellen mager, aber in der Gesinnung und im Styl sehr rein und schön und wahres Gold gegen den Haarbeutel- und Reifrocks - Geschmack einer Graun'schen und ähnlicher Compositionen. — Zu einer größeren Aufführung würde wohl Schumanns Cantate „Paradies und die Peri" zu empfehlen sein, eine Composition die vielleicht nicht gleich hätte gedruckt werden sollen — eine Ueberarbeitung für effectvollere Oekonomie des Ganzen hätte sie noch sehr heben können, aber auch so wie das Werk jetzt ist, wird es bei guter Aufführung immer viel Vergnügen machen können, es ist mit großer Liebe und Hingebung geschaffen, nur eben mit zu viel Hingebung.



Dieser Brief ist die Antwort auf einen derzeit verschollenen Brief von Spohr an Hauptmann. Der nächste überlieferte Brief dieser Korrespondenz ist Hauptmann an Spohr, 05.11.1847.
[Ergänzung 28.04.2020: Vermutlich nimmt Hauptmann in diesem Brief ferner zu zu den Feierlichkeiten zu Spohrs 25-jährigen Kasseler Dienstjubiläum Bezug: „Auch Moritz Hauptmann […] bringt nachträglich ,durch bestimmte falsche Nachrichten aus Cassel um die Freude gebracht‘ persönlich am Feste Theil zu nehmen seine herzlichsten Glückwünsche dar“ ([Friedrich Oetker], Spohr’s Jubel-Fest im Januar 1847, Kassel 1847, S. 23).]
 
[1] Zum Konzert vgl. „Leipzig, den 23. November 1846”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 48 (1846), Sp. 804ff., hier Sp. 804f.; Fr.Br., „Leipziger Musikleben”, in: Neue Zeitschrift für Musik 25 (1846), 177f., 180ff., 194 und 197f., hier S. 194, „Concert zum Besten des Orchester-Pensions-Instituts-Fond im Saale des Gewandhauses zu Leipzig”, in: Signale für die musikalische Welt 4 (1846), S. 385f., hier S. 385.
 
[2] Diese Kritik finden wir noch ein Jahrzehnt später: „Gewöhnlich wird denn auch auf unsern Bühnen die Oper damit geschlossen, daß Don Juan unter einem brillanten Feuerregen von rothen Männern mit Flachsperücken-Teufel nach langweiligem Hin- und Herzerren endlich glücklich in den rothglühenden Höllenrachen transportiert wird” (W. Viol, [Vorwort], in: Don Juan, komisch-tragische Oper in zwei Akten, von W.A. Mozart, Breslau 1858, S. 20).
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (18.01.2016).