Autograf: 1922 im Besitz von Ferdinand Manns, Oldenburg
Abschrift durch Ernst Krahnstöver 1922: Spohr Museum Kassel (D-Ksp), Sign. NL Krahnstöver
Druck: [Ernst] Krahnstöver, „Louis Spohr an einen Delmenhorster Bürger“, in: Delmenhorster Kreisblatt 11.01.1944 (teilweise)

Sr. Hochwürden
dem Herrn Pastor Sydikum
in
Delmenhorst
Großherzogthum Oldenburg

frei.


Cassel den 7ten Febr. 1847

Hochehrwürdiger
Hochverehrter Herr Pastor,

Von den zahlreichen Zuschriften, womit ich auf Veranlassung der Feier meiner 25jährigen hiesigen Dienstwirksamkeit erfreut wurde, hat keinen den Künstler so geehrt als die Ihrige, da sie von einem Manne kommt, der so tief in das Wesen der Kunst eingedrungen ist. Mich Ihres Beyfalls bei meinem Kunststreben und der Richtung, die ich eingeschlagen habe, erfreuen zu können, macht mich sehr glücklich, denn ich weiß wohl, daß bei Ihrer Weise, die Kunstwerke in Partitur zu lesen, Sie nicht durch das Materielle des Wohlklangs oder imposanten Lärmes zu gewinnen sind, sondern daß der Gedanke und dessen Durchführung Sie befriedigen muß, wenn sich das Kunstwerk Ihres Beifalls zu erfreuen haben soll. Der Beifall solcher Kenner, die leider nur sehr rar sind, ist es denn auch, der immer wieder von neuem zum Schaffen aufmuntert und das verkehrte Kunsttreiben der Neuzeit vergessen läßt.
Die Feier, womit ich überrascht wurde, hatte in ihrer ersten Hälfte viel anziehendes für mich. Es wurden Szenen im Kostüm aus meinen 9 Opern gegeben, die durch den Zauberstab und erklärende Reden der Fee aus Zemire und Azor, so gut es sich tun ließ, in Zusammenhang gebracht waren.1 Die Wahl im Wechsel von Szenen, von Chor, Ensemble und Arien war eine recht sinnreiche und so mußte eine Szene die andere heben. Da ich meine Musik fast nie gehört habe, ohne sie selbst einstudiert und dan dirigiert zu haben, so machte es einen ungewohnten und eigentümlichen Eindruck auf mich, nun einmal ruhiger Zuhörer sein zu können und nicht zu wissen was kommen würde. Dazu kam, daß ich die meisten der gewählten Szenen in vielen Jahren nicht gehört und fast vergessen hatte und da man von den früheren Arbeiten nach und nach zu den späteren und neusten, in der Folge wie sie enstanden sind, fortschritt, so gab mir dis zum ersten Mal in menem Leben einen Ueberblick von meinem ganzen Kunstwirken und regte mich dadurch auf eigentümliche Weise auf. Das Festspiel, was nun folgte, hatte viel peinliches für mich, da ich auf das Theater geführt, selbst eine Rolle darin übernehmen mußte und nur die Freude über die Theilnahme, die alle Klassen meiner Mitbürger an der Feier zeigten, konnte das Unangenehme dieser Szenen in etwas mildern.2
Bei einer späteren Feier, die meine musikalischen Freunde in einem Saal veranstaltet hatten, wurde ich durch die ganz ausgezeichnete Exekution des 3ten Doppelquartetts, zweier Lieder3 mit Klarinettbegleitung und des Klavierquintetts mit Blasinstrumenten überrascht. Ersteres hatte mein Schüler Bott so vollendet eingeübt und letzteres wurde von einer Dilettantin4, die aber früher mit demselben Namen Bott eine berühmte Künstlerin war und besonders in London viel Anerkennung gefunden hatte, in solcher Vollendung gespielt, wie ich es weder von Moscheles wie Liszt gehört habe. Nach der Musik folgte ein heiteres Mahl, bei welchem es an Toasts und ernsteren und heiteren Gedichten nicht fehlte.5
Daß ich Ihnen erst so spät meinen herzlichsten Dank für Ihre freundlichen Glückwünsche darbringe, wollen Sie gütigst mit der Masse von Korrespondenz und Geschäften aller Art, die mich in letzter Zeit bedrängen, entschuldigen.
Ihrer Frau Gemahlin und Fräulein Tochter die herzlichsten Grüße von meiner Frau und mir, auch Hr. Pott und den seinigen bitte ich uns zu empfehlen, wenn Sie sie sehen sollten.
Mit den Gefühlen inniger Hochachtung und Freundschaft ganz

der Ihrige
Louis Spohr.



Dieser Brief ist die Antwort auf Sydikum an Spohr, 15.01.1847.

[1] Vgl. [Friedrich Oetker], Spohr‘s Jubel-Fest im Januar 1847, Kassel 1847, S. 10-14.

[2] Vgl. ebd., S. 14-18.

[3] „Es gibt geheime Schmerzen“ und „Im Fliederbuch ein Vöglein saß“ aus op. 103 (vgl. ebd., S. 28).

[4] Catharina Breithaupt.

[5] Vgl. ebd., S. 29-33.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (26.05.2017).