Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Druck: [Friedrich Oetker], Spohr’s Jubel-Fest im Januar 1847, Kassel 1847, S. 22 (teilweise)

Hamburg, d. 24 Januar 1847.
 
Hochverehrter Herr Doctor!
 
Nehmen Sie hierdurch von Ihrem alten Freunde und Verehrer (dem „wahren Spohroman“, wie mich einst ein Referent im Dresdner Abendblatt betitelte1,) die herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahr und besonders zu dem schönen Feste Ihres Amts-Jubiläums.2 Möge der liebe Gott Sie doch recht lange noch froh und zufrieden Ihrer geschätzten Familie, Ihren zahlreichen, Sie hochverehrenden Freunden und Ihrem erhebenden Wirkungskreise erhalten, und mögte doch bald auch uns einmal die so lange und schmerzlich entbehrte Freude werden, Sie wieder hier in Hamburg zu sehn, in dem, jetzt leider sehr unkünstlerischen Handelsneste, wo eine erbärmliche Clique von sogenannten Recensenten, Kritikastern und anderen zu ihnen passenden, verächtlichen Subjekten nur darauf hinarbeitet, alle besseren, soliden und gediegenen Kunstwerke möglichst zu verdrängen. Grund, den ich zwar immer noch für unsern tüchtigsten Musiker halte, hat aber in den letzten Jahren in mancher Hinsicht – und wohl nicht immer ohne eigne Schuld – viel an Einfluß verloren. Sein oft zu burschikoses, leichtfertiges Wesen paßt wenigstens nicht gut zur Stellung eines Dirigenten; auch wird häufig über seine Unordnung geklagt; so erscheint er z.B. in seiner Akademie zuweilen erst nach der bestimmten Zeit des Anfangs; dann fehlen wieder die Stimmen pp.; in den Orchester-Proben der philharmonischen pp. Concerte werden so lange Unterredungen mit den Herren der Comite pp. gehalten, daß es schon öfters deshalb zu Klagen und lauten Äußerungen des Unwillens von Seiten der Orchestermitglieder gekommen ist. Dazu kränkelt G. seit einiger Zeit, indem er häufig von einem heftigen Stickhusten befallen wird, den er sich vielleicht zum Theil auch durch die üble Gewohnheit, in den Proben pp. mit seiner kreischenden Fistelstimme in den höchsten Tönen aufzuschreien, zugezogen hat. Bei alle dem sehe ich ihn doch noch als unsere einzige und beste Stütze der soliden Kunst an, denn die übrigen Herrn Dirigenten pp. sind der Art, daß, wer ihr Thun und Treiben nur einigermaßen mit Aufmerksamkeit beobachtet hat, sie unmöglich als wahre, gediegene Künstler schätzen kann. Krebs ist allerdings ein routinirter Dirigent, aber ein Knecht der Mode, des Mammons pp., der unsre älteren großen Meister, Mozart, Haydn u.a. durchaus nicht zu würdigen weiß, und der – unpassend genug, – häufig mit G. als Director verglichen wird. K. hat fast täglich Gelegenheit zur Übung im Dirigiren, dann hat er immer dasselbe Orchester zu leiten, und – was doch offenbar auch von großem Einfluß ist, – die Mitglieder des Orchesters sind mehr oder weniger von ihm abhängig. Alle diese bedeutenden Vortheile fehlen G., der überdem keine großen festen Einnahmen, aber eine zahlreiche Familie zu versorgen hat. – Da nun die öffentlichen Musik-Aufführungen, Concerte, Opern pp. im Ganzen nur selten erfreulicher Art sind, so nehme ich dann auch nur sehr selten an dergleichen Dingen Theil, und um so weniger, da ich, meines kränklichen Zustandes wegen, schon seit mehren Jahren im Winter nicht mehr ausgehen kann. – Mein Sohn3 hat Ihre schönen Trios öfters mit großer Freude gespielt, und sie mit Fleiß, besonders auch in Hinsicht des Vortrags, studirt. Doch fühlte er sich alle male darnach ungewöhnlich aufgeregt, was mir nicht allein eine Folge der technischen Schwierigkeiten, sondern hauptsächlich ein Zeichen des tiefgemüthlichen, geistigen Inhalts des Werkes zu seyn scheint.
Wie es übrigens jetzt hier aussieht, mögen folgende kurze Notizen zeigen. Unter den „väterlichen“ Behörden verfahren manche mit der unverantwortlichsten Gewissenlosigkeit. So sind z.B. für öffentliche Bauten, für Brücken, Schleusen pp. ganze 2 Millionen mehr ausgegeben, als nach dem Anschlag bestimmt war! Auch die jetzige Kirchenbehörde zu St. N.4 hat sich mehre arge, unbegreifliche Nachlässigkeiten pp. zu Schulden kommen lassen.
Für Unterstützung der Armen wird zwar im Allgemeinen Manches gethan; jedoch sind die Behörden zu wenig darauf bedacht, der Verarmung vorzubeugen, was doch hauptsächlich Pflicht der Staatsbehörden ist! Dabei sind die Preise der nothwendigen Lebensbedürfnisse bereits enorm gestiegen. Das Ochsenfleisch à Pfd. 12 ß5; ein Roggen-Spintbrot (von ca. 9-10 Pfd.) kostet 18 ß. Außerdem liefern die reichen Bäcker das Brot immer kleiner, ohne daß die Behörden das Geringste dagegen thun, obgleich die Sache oft genug in unsern Zeitungen zur Sprache gebracht ist. Warum werden nun die, so oft schon öffentlich in Anregung gebrachten Karten-, Hunde- u.a. Luxus-Steuern nicht eingeführt? Weil – so lautet hier die Antwort – dergleichen Steuern besonders nur die Reichen, d.h. „die Väter der Stadt“ treffen würden! – Was mir überhaupt in dieser unruhigen, ernsten Zeit am grauenvollsten erscheint, ist eben der übertriebene Luxus der Reichen, und die allgemeine, unglückliche Vergnügungssucht in den andern Volksklassen. In der Pfingstzeit v. Jr. enthielten unsre wöchentl. Nachrichten nicht weniger als 92 Vergnügungs-Anzeigen an einem Tage! So lebt man jetzt in „dem armen, abgebrannten Hamburg!“ – Da bin ich nun zu meinem Erschrecken in eine endlose moll-Phantasie hineingerathen! Ihre, mir so oft bezeigte gütige Theilnahme wird das fehlende dur entschuldigen. Möge meine Scriptur Sie nur vor Allem in einer recht heiteren Stimmung treffen.
Mit der Hoffnung auf ein baldiges, frohes Wiedersehn bitten um recht viele herzliche Grüße an Ihre verehrte Familie
 
Ihr getreuer Freund
und Verehrer J. F. Schwenke
nebst Frau und Sohn.
 
NS. Die kleine Beilage bittet um freundliche Aufnahme.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Schwencke an Spohr, 03.08.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Schwencke an Spohr, 30.07.1849.
 
[1] Noch nicht ermittelt.
 
[2] Am 20.01.1847 feierte man in Kassel das 25jährige Dienstjubiläum des Hofkapellmeisters Louis Spohr. Anlässlich dieser Feier wurde Spohr auch zum Generalmusikdirektor ernannt (vgl. [Friedrich Oetker], Spohr’s Jubel-Fest im Januar 1847, Kassel 1847.
 
[3] Friedrich Gottlieb Schwencke.
 
[4] An der Hamburger Kirche St. Nikolai war Schwencke seit 1829 Organist.
 
[5] Schilling.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (10.12.2018).