Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Braunschweig, den 21./23. Mai 1846.

Hochzuverehrender Herr Hofcapellmeister!

Als Ew. Hochwohlgeboren mich bereits im Juli vor. J. mit einem ebenso freundschaftlichen, als schmeichelhaften Briefe erfreuten, würde ich es für eine Unmöglichkeit gehalten haben, daß darauf erst heute eine weitere Mittheilung von mir erfolgen werde. Dennoch ist dem wirklich so, und wenn ich selbst nun auch zugleich sehe, wie es möglich gewesen ist, so fühle ich doch auch, daß Ew. Hochwohlgeboren mein Stillschweigen schon längst etwas befremdlich erschienen sein muß. Deshalb erlauben Sie mir zuvörderst, diese – Person zu entschuldigen, welche sonst leicht vermuthen lassen könnte, daß ich allen Tact verlernt habe.
Die Ungewißheit, wann ein Brief Sie nach Ihrer Rückkehr von Berlin und Bonn sicher in Cassel antreffen werde, um von mir selbst nur jene Zeit unternommene Reise und die darauf folgenden Vorbereitungen zur Aufführung der Zerstörung Jerusalems von Hiller, welche bis in die Mitte October mir fast ausschließlich oblagen, gaben die erste Veranlassung zum Aufschub. Inzwischen näherte sich aber der Zeitpunct der Aufführung Ihrer Oper immer mehr, und so entstand aus dem sehr natürlichen Wunsche, Ihnen zugleich über diese zu referiren, ein neuer Aufschub, der sich von Woche zu Woche bis in den December verlängerte. Da ich unmittelbar nach der ersten Aufführung (am 7. December) erkrankte und deshalb weder sogleich schreiben, noch die zweite (am 17. ejusd.1) besuchen konnte, so glaubte ich meine Berichterstattung bis zu nächsten Aufführung aussetzen zu müssen, welche aber, wie ich erst nach einigen Wochen auf weitere Nachfrage erfuhr, deshalb hat hinausgerückt werden müssen, weil die Aebtissin – in die Wochen gekommen war. Ich beschloß daher, meine Mittheilung, mit welcher ich bei Ew. Hochwohlgeboren nun doch nicht mehr der Erste sein konnte, noch so lange zu verschieben, bis ich ihr ein weiteres Heft Text zu Ihren Duettinen würde beifügen können, zu dessen Ausarbeitung ich im neuen Jahre mehr Zeit zu gewinnen hoffte, als mir von dem verflossenen dazu geblieben war. Da drängte mir aber, neben einem reichen Ueberflusse an Dienstgeschäften eine besondere persönliche Veranlassung eine noch umfangreichere Arbeit ähnlicher Art auf, (von welcher ich auch2 Ew. Hochwohlgeboren in der Folge wohl einmal Mittehilung machen darf), daß darüber Ostern vergangen ist und Pfingsten herannaht, ohne bestimmte Aussicht, ann ich zur Ausführung jenes Vorsatzes Muße finden werde. So habe ich unmerklich eine Schuld auf mich geladen, welche, wie eine Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst, mein Gewissen nachgehend so schwer belastet, daß ich nur gleich den ersten besten Tag benutze, um mich noch vor Pfingsten ihrer zu entladen.
Zunächst von Ihrer Oper: So weit ich darüber nach der ersten Aufführung urtheilen darf, hat sie sowohl an innerer, als äußerer Ausstattung nicht zu wünschen übrig gelassen. Solisten (Balduin: Schmezer, Besemund: Grösser, Bruno: Bussmeyer, Romuald: Chorist Franke, Robert: Chorist Schulz, vom Fall Babylon’s Ihnen wohl noch bekannt, Adhemar: Pöck, Conrad: Chorist Barnstorff, Emir: Fischer, Walter: Kahn, Emma: Mad. Fischer, Aebtissin: Mad. Höffler, geb. Mejo, Pförtnerin: Müller, Fatime: Methfessel), Chor und größtentheils auch die Capelle waren vortrefflich eingeübt, und würden selbst bei dem Componisten gewiß alle Ehre eingelegt haben. Nur die Orgel fiel so gut, als ganz aus, konnte wenigstens nicht schlechter ausfallen. Vorzugsweise schien die Aebtissin ihre Rolle sehr gut aufgefaßt zu haben, so daß sie wahrhaft imponirte und zum Anhalt für alle übrigen diiente. Dazu waren sämmtliche Anzüge neu, gewählt und glänzend und die Decorationen ebenfalls neu. Auch fand alles den verdientesten Beifall, selbst die Decorationen wurden einmal beklatscht und die Rettungsscene erregte sogar im Paradiese, welches an einer opera seria i.d.R. wenig Antheil bezeigt, einen wahren Jubel. – Obgleich mir sämmtliche Beurtheilungen in den musikalischen Blättern, auch die durchaus günstigen, sehr ungenügend erscheinen sind, so darf ich Ew. Hochwohlgeboren doch unmöglich damit langweilen, mit eigenem Urtheile in das Einzelne des Werks selbst eingehen zu wollen, kann mir indessen nicht versagen, wenigstens die Stücke hervorzuheben, welche mich wegen ihrer jugendlichen Frische, Kraft und Fülle und der getreuen Uebereinstimmung zwischen Wort und Ton vorzugsweise angesprochen haben. Dahin rechne ich vornämlich: die Beobachtung des altdeutschen Kriegerliedes, den Chor: „Willkommen, die ganze Scene zwischen Emma und Walter und ihr Recitativ nach seinem Abgange (welches alles nicht meisterhafter componirt gedacht werden kann), im Finale des ersten Acts der so lebendige, muntere Satz in G dur, Türkenmarsch und Schlußchor, – im zweiten Acte die Erkennungsscene und alles, war ih, wie in einem Geusse folgt, das Duett: Strahlend eröffnet sich, – im dritten den Marsch der Riesigen(???), Nr 29-31. der Chor: Drum auf, und den Schlußchor. Doch man kommt nur in Verlegenheit, wenn man wauswählen will, wo alles, da Einzelne, wie das Ganze, so als Kunstwerk erscheint, wie hier. Das Urtheil, welches die hiesigen Regisseure über die hvervorstechendste Eigenthümlichkeit des Werkes aussparchen,: daß nur ein Spohr es hätte wagen dürfen, ein Schauspiel so unmittelbar in Musik zu übersetzen, muß ich, was das Wagniß betrifft, dahin gestellt sein lassen, da ich das Theater nicht oft genug besuche, um zu wissen, was man bei dem großen Publicum wagen darf. Sonst, sollte ich denken, steht die Tonkunst jetzt hoch genug, um es auch in dieser Weise mit der Wortpoesie aufnehmen zu können, und nur darin stimme ich bei, daß, wer Ihrem Vorbilde folgen will, sich vor allem auf das Recitativ so verstehen muß, wie sein Vorbild. Allen aufmerksameren Hörern kan das Werk vielmehr nur als ein wahrer Fortschritt der Kunst, wie des Künstlers erscheinen sein und wir auch als solcher überall die verdienteste Anerkennung finden, wie das auch hier3 der Fall gewesen ist.
Bei der glänzenden Aufnahme, welche Ihr Werk in Berlin und Sie selbst dort und in Bonn4 gefunden, hat mir besonders die Herzlichkeit wohlgethan, mit welcher sich Liebe und Achtung für Ihre Tonmuse ausgesprochen haben, da z.T. Kritik und Afterkritik alles zu erkälten drohte. Zu ihrer Direction in Bonn konnten sich indessen die Deutschen auch nur sehr gratulieren, da ohne Sie dort alles Kopf über und untergegangen sein und Deutschland, den Franzosen und Engländern gegenüber, mit dem Feste sich selbst kein sonderliches Denkmal gesetzt haben würde. Unter allen Huldigungen, welche Ihrer Tonmuse in neuester Zeit dargebracht sind, hat indessen das meiste Interesse bei mir doch das Trio von Mendelssohn erregt, in welchem er sich5 an männlicher Tiefsinnigkeit, oder, wie viele auch sagen werden, an bizarrer Grämlichkeit alles, was er bis jetzt geschrieben, zu überbieten und sich6 dem Style Beethoven’s in seiner letzten Periode sich zu nähern bestrebt hat. Ob das Werk bald und überall ungetheilten Beifall finden werde, will ich aber auch eben deshalb dahingestellt sein lassen.
Seitdem haben wir nun auch von Ihnen ein Concertquartett oder vielmehr Quartettconcert, eine Concertouvertüre und ein Quartett erhalten, und was wird dem nicht noch alles Schönes folgen! Dazu möge Ihnen nur, wie wir uns allen von Herzen wünschen wollen, der Himmel die Gesundheit erhalten7, mögen Sie nur nach Carlsbad, oder, wie es vor einiger Zeit verlautete, nach England gehen. Doch der Himmel und Ihre Frau Gemahlin – welcher ich mich angelegentlichst zu empfehlen bitte – werden schon für Ihre Gesundheit Sorge tragen.
Von den hiesigen musikalischen Zuständen, mit Ausnahme der Oper, welche viel Neues bringt, ist nicht viel zu rühmen. Gebrüder Müller haben seit langer Zeit einmal wieder Winterquartette gegeben, Berlioz hat uns vor kurzem neben seinem Erstlinge, der etwas wunderlichen phantastischen Symphonie, sein neuestes Werk, – eine sehr gelungene Ouvertüre „der Römische Carneval“ vorgeführt, – Leonard mich nicht sonderlich angesprochen, – desto mehr aber Littolf, besonders in Beethovenschen Compositionen. Eine große Aufführung in der Aegydienkirche werden wir in diesem Jahre nicht haben; die Singakademie schlummert ein wenig, aber, wenn man sie nur nicht zur Unzeit wecken will, durchaus nicht den ewigen Schlaf!
Darf ich nach allem nur auch von mir selbst ein Paar Worte hinzufpgen, so muß ich vor allem für die kaum verdiente, ermunternde Theilnahme, welche Sie meinem Versuche einer Nachbildung Ihrer Duettinen geschenkt haben, schon meinen wärmsten Dank sagen. Ueber die Differenzen in unseren Ansichten hinsichtlich solcher Nachbildungen, welche mir die Aufgabe nur noch interessanter machen, mich mit Ihnen zu verständigen, erfordert mir umständlichen Auseinandersetzung, welche ich mir bis zur Mittheilung der übrigen Texte vorbehalte, zu denen von mir, wie es scheint, unvermeidliche Fodernisse vielleicht noch am ersten einige Muße verschafft. Für jetzt erlaube ich mir nur die wiederholte Bitte um Geheimhaltung (auch vor Ihren lieben Angehörigen aus Braunschweig, welche Ihnen in diesen Tagen persönlich einen Besuch abstatten werden). Sie sehen, daß mich wenigstens nicht Eitelkeit zu Arbeiten dieser Art antreibt. Da sie aber leicht als allotria gemißdeutet wären, so werden Sie mir schon deshalb meine Bitte nicht übel deuten.
Und nun, das Wichtigste für mich zum Schlusse: Sie versichern mich in Ihrem Briefe Ihrer Freundschaft! – Erhalten Sie mir diese! ich kann nichts Werthvolleres von Ihnen besitzen! Mißtrauen Sie dieser Bitte und Versicherung nicht, obwohl mein langes Stillschweigen sehr wenig für ihre Wahrhaftigkeit spricht, und obwohl ich für jetzt nur noch die wiederholte Versicherung hinzufügen kann: daß ich stets behaaren werde mit den aufrichtigsten Gesinnungen wahrer Hochachtung und – wenn ich es hinzusetzen darf – Freundschaft

Ew. Hochwohlgeboren
ergebenster
Otto.



Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief Spohr an Otto, ab 11.07.1845. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Otto an Spohr, 22. und 24.11.1847.

[1] Abk. f. „ejusdem“ (lat.) = „desselben“.

[2] „auch“ über der Zeile eingefügt.

[3] „hier“ über der Zeile eingefügt.

[4] Spohr übernahm zusammen mit Franz Liszt die musikalische Leitung des Musikfests anlässlich der Einweihung des Beethoven-Denkmals.

[5] „sich“ über der Zeile eingefügt.

[6] „sich“ über der Zeile eingefügt.

[7] „erhalten“ über gestrichenem „schenken“.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (24.05.2022).