Autograf: University of California, William Andrews Clark Memorial Library Los Angeles (US-LAuc), Sign. MS W134L
Druck 1: Otto Lessmann, „Ein Brief Richard Wagner‘s an Louis Spohr”, in: Allgemeine deutsche Musik-Zeitung 11 (1884), S. 127f.
Druck 2: Autographensammlung Ignaz Moscheles und Reserve Alfred Bovet bestehend zum größten Teil aus wertvollen Musikmanuskripten und Musikerbriefen. Versteigerung am 17. u. 18. November 1911 (= Katalog Liepmannssohn 39), Berlin 1911, S. 140f. (teilweise)
Druck 3: Richard Wagners Gesammelte Briefe, hrsg. v. Julius Kapp und Emerich Kastner, Bd. 2, Leipzig 1914, S. 203ff.
Druck 4: List of the Letters and Manuscripts of Musicians in the Williams Andrews Clark Memorial Library, Los Angeles 1940, S. 2 (engl. Übersetzung, teilweise)
Druck 5: Richard Wagner, Sämtliche Briefe, Bd. 2, hrsg. v. Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1980, S. 502ff.
Inhaltsangabe: The Important Collection of Autograph Letters and Documents […] formed by the late John H. Gundlach (= Katalog American Art Association), New York [1927], S. [210]

Herrn
Louis Spohr
Kurfürstl. Hess. Hofkapellmeister
zu
Cassel
 
frei
 
 
Hochgeehrtester Meister,
 
Jetzt erst komme ich dazu, ihr werthes letztes Schreiben zu beantworten; ich bin nun nämlich auf dem Lande angekommen, wo ich – auf einem Dorfe, drei Stunden von Dresden – während der Dauer eines längeren Urlaubes verweilen will: ich verschob, Ihnen zu schreiben, um dies als mein erstes und liebstes Geschäft nach meiner Ankunft auf dem Lande mir aufzusparen. Nach einem widerlich verlebten Winter athme ich nun in der reizenden Natur, die mich umgiebt, auf, und mit solchem Eifer suche ich die Stadt, das winterliche Musikmachen, Theater, Oper pp. zu vergessen, daß mir schon heute schwer fallen wird, mit Ihnen über derlei Dinge zu verkehren, zumal in ihnen diesmal im besonderen so viel unangenehmer Stoff liegt. Ich bin jetzt meinem Herrn Generaldirector so sehr verbunden, denn er hat mir gestattet, ein ganzes Vierteljahr lang nichts mit ihm zu thun zu haben; soll ich nun undankbar sein, und die erste Freiheit, der er mich genießen läßt, zur Kritisirung seines Benehmens gegen Sie verwenden? Der Tadel, der ihn dabei treffen müßte, würde so schaf sein müßen, daß ich ihm aus Dank gern jetzt mein Lobgedicht erspare. Die Art und Weise seines Verfahrens, das ich durch Ihre Mittheilung erst genau kennen lerne, zeugt von einer Roheit des Mannes, die mir fast lächerlich vorkam; wen soll man bedauern, diese Junker, die als Böcke zu Gärtnern bestellt sind und sich beijedem Schritte der Lächerlichkeit bloßstellen, - oder die Künstler, die unter ihren Abgeschmacktheiten leiden? - Da Sie mir die Gelegenheit bieten, mich bald mündlich mit Ihnen unterhalten zu können, so – hoffe ich – ermüßigen wir ein Stündchen, um es diesem Capitel zu schenken: im ganzen preise ich Sie aber glücklich, theuertster Meister, wenn diese Kränkung1 die erste war, die Ihnen in Ihrer großen Künstlerlaufbahn zugefügt ward, muß allerdings aber schmerzlich bedauern, daß ich gewißer Maßen Zeuge derselben sein sollte, ohne sie verhindern zu können, da es theils zu spät war, teils aber auch die Ohnmacht unserer Stellung zu dem Theater-Intendanten schwerlich imstande sein kann, Unwürdigkeiten zu verhüten. Jedenfalls haben Sie Herrn v. Lüttichau eine tüchtige Lehre gegeben, die glücklicherweise gerade Sie ihm ertheilen konnten, und ich für mein Theil hoffe zu Gott,2 für diese Dresdener Ungezogenheit Ihnen noch eine gehörige Dresdener Genugthuung zu verschaffen.
Für jetzt gestatten Sie mir wohl diese widerliche Angelegenheit des weiteren unberührt zu laßen? Der Kampf mit der machtvollen Dummheit u. dem gebietenden Unverstand ist es ja eben, was uns das Leben so schwer macht, - seien wir daher froh, wenn wir disem Schlachtfelde auf einige Zeit den Rücken kehren dürfen!
Die größte Freude, die mir widerfahren konnte, war Ihr Anerbieten einer Zusammenkunft mit mir: ich habe Sie nur erst aus der Ferne gesehen, wo ich mich nicht wagte Ihnen zu nahen.3 Hätten Sie mich doch hier in meiner ländlichen Zurückgezogenheit besuchen können, in einer der reizendsten u. mannigfaltigsten Gegenden von der sächsischen Schweiz! Es würde Ihnen vielleicht eine angenehmere Rast als Leipzig gewährt haben. Mir kann es indes vollkommen gleich gelten, wo ich Sie sehe und Leipzig soll mir heilig sein, wenn ich endlich mich Ihnen dort nahen kann. Bestimmen Sie ganz, mein hochverehrter Meister, über die Zeit unseres Zusammentreffens, Juni oder Juli gilt mir vollkommen gleich, da ich zu Gott hoffe, bis Ende Juli frei bleiben zu können.4 Wie es Ihnen also am gelegensten ist, auf der Hin- oder Zurückreise von Carlsbad, belieben Sie nur mit mir einer Zeile es anzuzeigen, und ich werde mich glücklich schätzen, Ihrer Einladung folgen zu dürfen.
In der Voraussetzung eines baldigen ungestörten Zusammenseins erspare ich Ihnen u. mir also jetzt jede weitere Mittheilung für mündlichen Verkehr: mit Sehnsucht sehe ich nur Ihrer letzten Aufforderung dazu entgegen; möge sie bald eintreffen und mir zugleich die Hoffnung geben, daß ich Sie in bester Gesundheit finden werde.
Mit dem herzlichsten Dank für die mir in Aussicht gestellte Freude, und mit der Bitte, mir zu unserem Zusammentreffen eine freundliche Gesinnung bewahren zu wollen, verbleibe ich in wahrster Hochachtung u. Verehrung
 
Ihr
dankbarst ergebener
Richard Wagner.
 
Groß-Graupa
bei
Dresden, 17 Mai 1846
 
(Bitte den Brief nur nach Dresden zu adressieren.)

Autor(en): Wagner, Richard
Adressat(en): Spohr, Louis
Erwähnte Personen: Lüttichau, August von
Erwähnte Kompositionen: Spohr, Louis : Die Kreuzfahrer
Erwähnte Orte: Karlsbad
Leipzig
Erwähnte Institutionen: Hoftheater <Dresden>
Zitierlink: www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1846051743

Spohr



Dieser Brief ist die Antwort auf Spohr an Wagner, ab 23.03.1846. Spohrs Antwortbrief ist derzeit verschollen.
 
[1] August von Lüttichau schickte Spohr am 05.03.1846 die bereits angenommene Oper Die Kreuzfahrer wieder zurück, weil sie in Dresden nicht aufgeführt werden könne.

[2] Hier gestrichen: „Ihnen“.
 
[3] In seinem Brief an Spohr, 04.02.1845 berichtet Wagner, er habe Spohr bei einem 1842 aus der Ferne in Dresden gesehen. Dort besuchte Spohr eine Aufführung von Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti (Marinanne Spohr, Tagebucheintrag 22.07.1842).

[4] Zu den Treffen zwischen Spohr und Wagner in Leipzig vgl. Marianne Spohr, Tagebucheinträge 23. und 24.06.1846; Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, Kassel und Göttingen 1861, S. 305ff.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (04.09.2017).