Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Hersfeld, d. 5.
Mai 1846
Wohlgeborner,
hochzuverehrender Herr Kapellmeister!
Ew. Wohlgeboren ist bekannt, daß Kapellmeister Kupsch seit einer Reihe von Wochen in unserer Mitte lebt und es ist Ihnen auch nicht unbekannt geblieben, welche Schicksale diesen edlen, herrlichen Mann seit mehreren Jahren verfolgt haben. So sonderbar auch der Zufall ist, der ihn gerade nach Hersfeld geführt hat, so interessant ist es doch für die hießigen Musikfreunde gewesen, einen so gediegenen, höchst gebildeten und im Umgang so liebenswürdigen Mann kennen zu lernen, und auf der andren Seite vielleicht so gut für ihn, denn es ist höchst wahrscheinlich, daß die Menschen bei ihrer Bescheidenheit, bei der Ungewohntheit so unerhörter Schicksale geradezu umgekommen wären. Ich schätze mich glücklich, daß ich der erste gewesen bin, der die Verhältnisse erkannt und mit Hülfe einiger Freunde den Unglücklichen Trost gebracht hat. Was der Hr. Bader1, den ich für Hn. K. interessirt hatte, in Cassel für letztern gethan und wie auch bei dieser Gelegenheit die Casselaner den alten Ruhm ihrer Menschenfreundlichkeit bewährt haben, ist mir bekannt. Auch hatte mir schon vorher Hr. K. selbst erzählt, wie freundlich Ew. Wohlgeboren gegen ihn gewesen und was Sie dort für ihn gethan. Leider ist die Marburger Stelle2 anders besetzt worden und Hr. K. ist, wenn auch noch einige Monate für seinen und seiner Familie Unterhalt gesorgt ist, ohne Stelle und ohne Bares. Ich hatte schon die Sache, in der Voraussetzung, daß wenn Hr. K. nicht nach Marburg könne, wenigstens unser Candidat Scheidler3, auf den allerdings wohl reflectirt wurde, nach Marburg versetzt würde, so gerechnet, daß H. K. vorläufig hier bliebe, die Stunden des Hn. Scheidler übernähme und es abwartete, bis sich bessere Aussichten böten. Das Alles ist nun zu Nichte geworden, zudem ist der Sommer da, wo viele Theater eingehen und nach Dirigenten geringe Nachfrage ist – was ist nun unter diesen Umständen anzufangen? Sollten Sie denn, hochzuverehrender Herr Kapellmeister, bei Ihrem großen Einfluß in ganz Deutschland, bei Ihren Verbindungen in Nähe und Ferne, ein Unterkommen wissen? 4-6 Wochen kann Hr. K. noch hier bleiben um sich zu erholen, aber dann würde er vorläufig selbst eine Organistenstelle annehmen – er ist ein ausgezeichneter Orgelspieler –, die nur ein mäßiges Einkommen brächte. Wäre es aber auch damit Nichts, – hätten Sie dann wohl die Güte eine kleine Annonce in der Leipziger musikalischen Zeitung mit Ihrer Unterschrift zu bewirken, des Inhalts, daß ein Dirigent bei einem Theater oder in Domkapellen eine Stelle wünschte, daß derselbe aber auch gewiß sein würde, eine Organistenstelle von einer größeren Kirche einzunehmen und daß die, welche einen solchen Mann suchten, sich an Sie wenden möchten? Ich denke mir, daß eine solche Annonce nicht fehlschlagen könnte. Als Dirigent sucht Hr. Kupsch wohl seines Gleichen. Er wird in 8 Tagen ein Concert dirigiren und es ist wirklich interessant, wie er die hiesigen musikalischen Kräfte zu heben und zu entwickeln weiß. Dabei spielt er selbst sehr gut Clavier und als Gesanglehrer hat er in Rotterdam sehr Bedeutendes geleistet. Möchte Gott geben, daß der brave, edle Mann bald wieder ein festes Unterkommen findet, damit er von diesen drückenden Sorgen befreit wird, unter denen er unmöglich genesen kann. Deuten Sie, hochzuverehrender Herr Kapellmeister, diesen Brief nicht übel, mein Mitgefühl, meine große Theilnahme an dem Werth und auch der andern Seite von dem Unglück des Hn. K. hat mich zu demselben veranlaßt. Wo hätte man mehr Aufforderung zu helfen als hier, wenn man sieht, wie ein Mann, der bisher in den glücklichsten Verhältnißen lebte, so plötzlich aller seiner Habe beraubt und mit den Seinigen fast dem Hungertuche preisgegeben wurde? – Unter Versicherung der innigsten Hochachtung hat die Ehre zu unterzeichnen
Ew. Wohlgeboren
ergebenster Dr. Wiskemann
Autor(en): | Wiskemann, Heinrich |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Bader, Friedrich Deichert, Wilhelm Kupsch, Gustav Scheidler, Christian August |
Erwähnte Kompositionen: | |
Erwähnte Orte: | Hersfeld Kassel |
Erwähnte Institutionen: | |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1846050547 |
Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Wiskemann an Spohr, 24.04.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Wiskemann an Spohr, 10.11.1854.
[1] Vermutlich der Stabshautboist Friedrich Bader (vgl. Casselsches Adreß-Buch (1846), S. 8).
[2] Die mit Spohrs Schüler Wilhelm Deichert besetzte Stelle des Universitätsmusikdirektors (vgl. „Feuilleton“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 48 (1846), Sp. 390; [Ergänzung Karl Traugott Goldbach, 11.07.2024: Gustav Kupsch an Spohr, 03.04.1846]).
[3] Möglicherweise Christian August Scheidler, der in Hersfeld eine Klavierschule herausgab (Theoretisch-practische Clavierschule, Hersfeld [1850]).
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Wolfram Boder (09.02.2018).