Autograf: ehemals Privatbesitz Dr. Ernst Hauptmann in Kassel, vermutlich 1943 Kriegsverlust
Druck: Moritz Hauptmann, Briefe von Moritz Hauptmann, Kantor und Musikdirektor an der Thomasschule zu Leipzig an Ludwig Spohr und Andere, hrsg. v. Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 23-26.

Leipzig, 21. April 1846.

Lieber Herr Kapellmeister.

Sie haben uns mit der Hoffnung Sie diesen Sommer hier zu sehen eine große Freude gemacht. Ich durfte, auch um Ihretwillen dabei nicht an mich allein denken und besprach mich sogleich mit Mendelssohn und David1. Am liebsten würden wir Sie gegen den 20. Juni hier erwarten. Musikalisch wird dann alles aufgeboten werden, wodurch Ihnen und durch Sie uns Freude bereitet werden könnte;2 ich kann nicht sagen, wie sehr ich mich sehne Sie hier zu sehen und bitte Sie herzlich uns bald gewisse Nachricht darüber zu geben.
Wir haben kürzlich Jenny Lind wieder hier gehabt, auf der Durchreise nach Wien, wo sie gegenwärtig schon eingetroffen sein wird. Sie fühlte sich nicht ganz wohl und hatte keine Lust zu singen; man beredete sie doch Concert zu geben, kurz nach der Ankündigung für den folgenden Tag (den 1. Ostertag) waren schon die meisten Plätze genommen, die Einnahme über 1000 Thlr. Sie sang nur mit Pianoforte-Begleitung. Mendelssohn und David füllten die Gesangpausen.3 Außer der Garcia-Viardot habe ich nie eine Sängerin von so technischer Vollendung gehört, bei der Lind kommt aber noch ein nicht so französisch scharf markirtes, sondern ein nordisch tief und reich fühlendes Gemüth dazu. Mir hat die Garcia mit ihrer poetisch-geistreichen Virtuosität viel Vergnügen gemacht, etwa in der Art wie die besten Bilder der Versailler historischen Gallerie, wie Horace Vernet; man hat bei ihrem Gesange ein sehr bestimmtes Kunstgefühl. Der Lind mangelt durchaus nichts an vollkommenster Virtuosität; aber sie wirkt noch mehr durch das Sentimentale ihres Vortrags, im guten Sinne des Wortes. — An demselben Tage, da Sie in Cassel das Mozart'sche Requiem gaben, hatten wir hier eine Aufführung des Cherubinischen4, einer außerordentlich schönen Composition, nur für Chor, aber darum desto großartiger, in der schönen, breiten, in der Hauptgliederung klar-übersichtlichen Conception, wie sie Cherubini vorzüglich eigen ist. Man wird auch nie versucht es mit dem Mozart'schen zu vergleichen — der Anfang dieses letzteren ist freilich auch etwas ganz Anderes, wie man überhaupt nicht an das Einzelne des Mozart'schen denken darf, wenn etwas Anderes auf dieselben Worte soll gefallen können. Der Anfang der Cherubini'schen Composition scheint mir das Schwächste davon, dann erhebt sich's aber gewaltig; das Dies irae und Nomine Jesu sind von großer Schönheit und Wirkung und am Schluß hat man recht das Gefühl eines großen Ganzen. Bei Mozart lassen sich zwei oder dreierlei Musikarten unterscheiden, —man hat sich so hineingelebt, daß man keinen Ton anders möchte, aber es ist kaum zu glauben, daß das Werk in diesem Zusammenhang in einer Zeit geschrieben worden sei. — Sie werden die David'sche Wüste nun schon aufgeführt haben. David5 hat in Wien einen schweren Stand gegen die Kritiker gehabt, dem Publicum hat seine Composition sehr gefallen, weit mehr als Berlioz der zugleich dort war; die Blätter aber haben diesen über Beethoven und in den Himmel erhoben und David ganz zurückgestoßen. Einer sagt: Berlioz sei ein Genie ohne Talent, David ein Talent ohne Genie.6 Darin ist wenigstens etwas nicht ganz Unwahres, wenn man überhaupt Genie ohne Talent wollte gelten lassen und das erste mehr auf Erfindung, das zweite mehr auf Gestaltung beziehen wollte. Aber das Genie wird sich wohl ebenso in der Formation wie in der Erfindung kund zu geben haben, und es wird hier vielmehr poetisches und künstlerisches Talent in Vergleich zu setzen sein. Bei David, dem es an Tiefe fehlt, finde ich ein sehr hübsches Talent leichtfaßlicher Darstellung; es ist heutiges Tages auch etwas Angenehmes einmal etwas nicht Gequältes, nicht Gepfropftes zu hören. Wenn Einer eine lange Zeit über einer Arbeit zubringt, die wir in einer Stunde anhören sollen, so mag er nur einen guten Theil dieser Zeit darauf verwenden sein Werk aus dem Schweren in das seichte herauszuarbeiten, sonst wird das Anhören selbst eine schwere Arbeit. Wieland schreibt einmal daß er bei seinen poetischen Arbeiten die meiste Mühe darauf zu verwenden habe, sie dahin zu bringen, daß sie ohne Mühe gemacht scheinen. Diese Sorge möchte man vor Allem den deutschen Opern-Componisten anempfehlen, die bei einer halbjährigen Arbeit so oft vergessen daß sie in zwei bis drei Stunden soll aufgenommen werden, und noch weniger darandenken, wie Vieles bei einer Theatervorstellung noch dazu kommt eine an sich leicht faßliche Musik nothwendig zu machen. Wie die Poesie zur musikalischen Compofition, so die Opernmusik zur Darstellung: beide müssen noch etwas aufnehmen können. Reißiger's neue, noch nicht gegebene Oper7 ist in Dresden nicht angenommen worden8, weil Flotow, der Componist des Stradella, dasselbe Buch9 bearbeitet hat, und die Direction von der Oper dieses Componisten sich einen bessern Erfolg verspricht; das ist freilich kränkend für einen Hofkapellmeister — aber Reißiger's Opern sind eben bis jetzt durchgängig der Art gewesen, wie sie nach den ersten Aufführungen zurückgelegt werden, um nie wieder gegeben zu werden; und Stradella wird gegeben, weil sie praktisch ist, und das ist doch auch ein Werth und für eine Intendanz ein sehr bedeutender. Mir ist sie sehr Auberisch vorgekommen, aber nicht wie eine der guten Opern von Auber, ebenso auch die Haymonskinder10. — Von R. Wagner ist in einem Concerte die Ouvertüre zum Tannhäuser gegeben worden.11 Sie ist ganz gräßlich, unbegreiflich ungeschickt, lang und langweilig für einen so gescheidten Menschen, Ich möchte sehr gern einmal eine seiner Opern hören; von dem was mir bis jetzt bekannt davon geworden, kann ich mit dem besten Willen keine gute Meinung davon fassen. Er ist kein junger unerfahrener Mensch mehr und wer da noch so ein Ding machen und stechen lassen kann wie diese Ouvertüre, dessen Künstlerberuf scheint mir sehr wenig entschieden. Ich habe von Haus aus kein rechtes Vertrauen zu einem Componisten, der sich seinen Text selbst dichtet — ich habe es in der Idee der Sache nicht und finde, wo es geschehen ist, noch nirgends ein Resultat, das mich widerlegte. Es ist mir, so schlecht der Vergleich ist, als wenn einer sich selbst heirathen sollte.



Dieser Brief ist vermutlich die Antwort auf Spohr an Hauptmann, 10.04.1846. Spohr beantwortete diesen Brief vermutlich am 28.04.1846.

[1] Ferdinand David.

[2] Vgl. Marianne Spohr, Tagebucheinträge 22.-27.06.1846.

[3] Vgl. L.R., „Leipzig, den 16. April 1846”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 48 (1846), Sp. 277ff.; Fr.B., „Leipziger Musikleben”, in: Neue Zeitschrift für Musik 24 (1846), S. 118ff., 126ff. und 135f., hier S. 136.

[4] Vgl. „Leipzig, den 11. April 1846”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 48 (1846), Sp. 257ff.; Fr.B., „Leipziger Musikleben”, S. 135f.

[5] Félicien David.

[6] Franz Grillparzer zugeschrieben (vgl. E. Bertoni, „Correspondenz aus Wien”, in: Österreichisches Bürgerblatt für Verstand, Herz und gute Laune 27 (1845), S. 828), von ihm selbst jedoch abgestritten („Aus Wien”, in: Grenzboten 4.2 (1845), S. 588ff., hier S. 589).

[7] Der Schiffbruch der Medusa.

[8] Die Oper wurde im Herbst 1846 doch noch in Dresden inszeniert (vgl. „Aus Dresden im October”, in: Europa 11.2 (1846), S. 111).

[9] Le Naufrage de la Méduse.

[10] Les Quatre fils Aymon von Michael Balfe (zur Inszenierung in Leipzig vgl. „Leipzig, 12. Sept.”, in: Allgemeine Zeitung <München> (1845), S. 2069f., hier S. 2070; Ludwig Eckhardt, „Die Zigeunerin”, in: Sammler 38 (1846), S. 474f., hier S. 474).

[11] Vgl. L.R., „Leipzig, den 14. Februar 1846”, in: Allgemeine musikalische Zeitung 48 (1846), Sp. 121ff., hier Sp. 122f.; F.B., „Leipziger Musikleben”, in: Neue Zeitschrift für Musik 24 (1846), S. 31f., 40, 43f. und 71f., hier S. 72; H.S., „Concert zum Besten des Orchester-Pensions-Instituts-Fonds im Saale des Gewandhaus zu Leipzig”, in: Signale für die musikalische Welt 4 (1846), S. 58f., hier S. 58.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (16.01.2016).