Autograf: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohnarchiv (D-B), Sign. 55 Nachl. 76,279
Druck: Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist 1790-1878. Sein Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen dargestellt von seinem jüngsten Sohne, München 1925, S. 294f. (teilweise)

Frankfurt am 16 Merz
1846.
 
Theurer Freund!
 
Nach langer Unterbrechung unseres Briefwechsels erscheine ich heute vor Ihnen und zwar in einer wichtigen Angelegenheit. – Meine Tochter ist seit einigen Tagen nach 1½jähriger Abwesenheit zurückgekehrt. Sie hat bei Hauptmann sehr schöne Studien gemacht, und ich war freudig überrascht von dem glücklichen Erfolg ihres Leipziger Kunstlebens. Auch im Klavierspiel ist sie sehr vorangeschritten u. namentlich in der Auffassung der besten modernen Componisten. Sie hat zur großen Zufriedenheit Hauptmanns viele Sachen, worunter strenge Motetten u.s.w. geschrieben, welche von einem natürlichen Talente zeugen. So günstig ausgestattet, haben wir nach reiflicher Erwägung aller Umstände beschlossen, unsere Tochter nach London zu schicken, damit sie ihr Talent geltend mache und sich womöglich für die Zukunft eine sorgenfreie Existenz schaffe. – Die Auspicien sind günstig. Moscheles hat seine thätigste Mitwirkung zugesagt und da er im August England auf immer verläßt, so hat meine Tochter Hoffnung einen Theil seiner Kundschaft zu erhalten. An Empfehlungen von Mendelssohn0, David und anderen Künstlern und einflußreichen Privaten fehlt es auch nicht. Da es aber in England hauptsächlich auf gute Empfehlungen ankömmt, und Ihr Ansehen dort auf der höchsten Stufe stehet, so haben wir, in Rücksicht auf unsere langjährigen freundschaftlichen Verbindungen, namentlich auf Ihre gütige Verwendung gerechnet. Meine Bitte gehet daher an Sie, lieber Freund, uns einige wichtige Empfehlungen einzusenden, unter andern an Sterndale Bennet.1 An Horsley und Taylor2 sind bereits Empfehlungen da. Sie werden durch die Erfüllung meiner Bitte mich zum verbindlichsten Danke verpflichten. Meine Tochter wird in 4 Wochen abreisen.
Vor einigen Tage brachte mir ein Bekannter den beifolgenden Pariser Conzertzettel mit. Er erzählte mir daß der zweite Satz Ihrer Sinfonie unter Beifalls-Enthusiasmus wiederholt werden mußte und die Aufführung vortrefflich gewesen sei. Im letzten Museum hörten wir die Historische Sinfonie, mit deren Aufführung man nicht besonders zufrieden sein konnte.
Werden Sie nicht diesen Sommer eine Reise machen? Und wohin werden Sie sich wenden? Ich kann leider meine Scholle nicht verlassen.
Die Meinigen sind wohl und lassen Sie herzlich grüßen. Lassen Sie recht bald von sich hören u. behalten Sie lieb
 
Ihren treuen Freund
WmSpeyer.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Spohr an Speyer, 01.05.1845. Spohr beantwortete diesen Brief am 29.03.1846.
 
[0] [Ergänzung 31.01.2019:] Derzeit ist nur ein Empfehlungsbrief Felix Mendelssohn Bartholdys an Julius Benedict, 18.03.1846 nachgewiesen (vgl. Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 11, hrsg. v. Susanne Tomkovič, Christoph Koop und Janina Müller unter Mitarb. v. und Uta Wald, Kassel u.a. 2016, S. 236 und 619).
 
[1] Spohr an William Sterndale Bennet, 29.03.1846.
 
[2] [Ergänzung 31.01.2019:] Vgl. Spohr an Edward Taylor, 27.03.1846.
 
Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (12.03.2016).

Frankfurt, 16. März 1846.
 
Nach langer Unterbrechung unseres Briefwechsels erscheine ich heute vor Ihnen und zwar in einer wichtigen Angelegenheit. Meine Tochter ist seit einigen Tagen nach 1½jähriger Abwesenheit in Leipzig nach Hause zurückgekehrt. Sie hat bei Hauptmann sehr schöne Studien gemacht, und ich war freudig überrascht von dem glücklichen Erfolg ihres Leipziger Kunstlebens. Auch im Klavierspiel ist sie sehr vorangeschritten und namentlich in der Auffassung der besten modernen Kompositionen. Sie hat zur großen Zufriedenheit Hauptmanns viele Sachen, worunter strenge Motetten usw. geschrieben, welche von einem natürlichen Talente zeugen. So günstig ausgestattet, haben wir nach reiflicher Erwägung aller Umstände beschlossen, sie nach London zu schicken, damit sie ihr Talent geltend mache und sich womöglich für die Zukunft eine sorgenfreie Existenz schaffe. Die Auspizien sind günstig. Moscheles hat seine tätige Mitwirkung zugesagt und da er im August England auf immer verläßt, so hat meine Tochter Hoffnung einen Teil seiner Schüler zu erhalten. An Empfehlungen von Mendelssohn, David und anderen Künstlern und einflußreichen Privaten fehlt es auch nicht. Da es aber in England hauptsächlich auf gute Empfehlungen ankommt und Ihr Ansehen dort auf der höchsten Stufe steht, so haben wir in Rücksicht auf unsere langjährige Freundschaft besonders auf Ihre gütige Verwendung gerechnet. Meine Bitte geht daher an Sie, lieber Freund, uns einige wichtige Empfehlungen einzusenden, u.a. an Sterndale Bennet. An Horsley und Taylor sind bereits Empfehlungen da. Sie werde duch die Erfüllung meiner Bitte mich zum verbindlichsten Dank verpflichten ...
Vor einigen Tage brachte mir ein Bekannter den beifolgenden Pariser Konzertzettel mit. Er erzählte mir, daß der zweite Satz Ihrer ,Weihe der Töne’ Sinfonie unter Beifallsenthusiasmus wiederholt werden mußte und die Aufführung vortrefflich gewesen sei. Im letzten Museumskonzert hörten wir hier Ihre ,Historische Sinfonie’. – Werden Sie nicht diesen Sommer eine Reise machen, und wohin? Ich kann leider meine Scholle nicht verlassen.