Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287

Sr. Hochwohlgeboren
Herrn Hofkapellmeister Dr L. Spohr
Ritter pp.
in
Cassel

frei.1


Mainz den 10ten Januar 1846.

Hochgeehrter Herr Capellmeister!

Wie gern ergreife ich jede Gelegenheit, mich durch ein paar Zeilen bei Ihnen in Erinnerung zu bringen, da ich kaum der Hoffnung leben kann, daß Sie meiner wohl noch gedenken. Seitdem ich von Cassel fort bin, habe ich Vieles erlebt und meist viel Unglück. Von Coblenz, wo ich als Chordirektor beim Theater war, ging ich mit einer deutschen Truppe nach Süd-Frankreich bis Marseille, wo unser Direktor bankrott machte. Seit 1½ Jahren bin ich nun in Mainz, wo ich denn seit kurzer Zeit Direktor der Liedertafel bin; in welcher Funktion ich mich recht wohl fühle. Außerdem ist mir seit langen schon die Direktion eines Vereins für Kirchenmusik übertragen. Wir führen etwa alle 14 Tage Messen in den katholischen Kirchen auf. Auch ich habe eine Messe mit Orchesterbegl. komponiert und hier aufgeführt, wofür mir als Zeichen der Anerkennung von den Damen eine goldene Cylinderuhr überreicht wurde.
Ich schreibe Ihnen das nicht aus Eitelkeit; denn einem so großen Meister gegenüber, den ich so hoch verehre, würde diese Eitelkeit sehr lächerlich erscheinen. Es soll Ihnen das nur ein Beweis sein, daß ich fortgestrebt und gearbeitet habe, um mich der Theilnahme, die Sie mir früher erwiesen, auch würdig zu zeigen. Sie haben ja erst den Funken in mir erweckt, der mir den Muth gab, mich ganz der Musik zu widmen, indem Sie mir sagten, daß ich Talent zu dieser Kunst habe. Seitdem habe ich das Streben für die Kunst und das Studium derselben nie in mir erkalten lassen. So arbeite ich jetzt immer fort und ich denke, daß mit Gottes Hülfe noch einmal aus mir etwas werden wird.
Bei unserem Theater hier wird jetzt Ihre neue Oper von Musikdirektor Esser erarbeitet; unsere Kräfte sind nicht ganz schlecht und Esser ist ein kenntnisreicher und umsichtiger Dirigent, der mit dem größten Fleiß und der größten Redlichkeit die Oper einstudiren wird. In diesen Tagen ist an die Casseler Intendanz die Partitur von Esser’s neuer Oper: „die zwei Prinzen“ abgeschickt und das veranlaßt mich, an Sie zu schreiben. Ich werde mich freilich nicht erdreisten, Ihnen ein Werk anzuempfehlen, doch erlaube ich mir, Ihnen zu sagen, daß der H. Esser, als ein junger talentvoller und strebender Componist es wohl verdient, daß sich ein so großer Meister, wie Sie, für ihn interessire, wenn Sie sonst die Oper für gut halten.2 Sie ist, wie Sie wissen werden in München schon mehre Male3 und auch hier in Mainz mit dem größten Beifalle aufgeführt und jetzt ist sie in Frankfurt a/m4 und in Berlin5 angenommen. Esser ist bei all seinem Talent ein sehr bescheidener junger Mann und ich schreibe in seinem Interesse an Sie, ohne daß er es weiß.
Der Musikdirektor Edele in Bern hat vor einem Jahr eine Oper: „Lichtenstein“ vollendet und sie dort mehrere Male mit Beifall zur Aufführung gebracht.6 Er läßt durch mich bei Ihnen höflichst anfragen, ob seine Oper vielleicht in Cassel aufgeführt werden könne: Partitur und Auflagestimmen will er gratis liefern.
Jetzt habe ich noch eine Bitte an Sie. Ich habe früher einmal an Sie wegen Wiedererlangung Ihrer Original-Partitur zu den „letzten Dingen“ geschrieben7 und ich möchte jetzt gern wissen, ob Sie dieselbe auf diesem Wege erhalten haben. Ich bitte Sie, hochgeehrter Herr Capellmeister, deshalb recht inständigst, mir ein paar Zeilen zukommen zu lassen und Sie werden mir diese Bitte nicht abschlagen, da Sie wohl wissen, wie sehr ich einen Brief von Ihnen als eine heilige Reliquie betrachte.
Lassen Sie mich noch einmal aussprechen, wie wahrhaft ich Sie verehre und erlauben Sie mir, mich zu nennen

Ihr dankbarer Schüler
Louis Liebe.

Meine Adresse ist:
An den Musikdirektor L. Liebe
in
Mainz
wohlhaft: Rinderfußgasse
beim Weinwirth Ernst.



Der letzte erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Liebe an Spohr, 05.03.1844. Der nächste erhaltene Brief dieser Korrespondenz ist Liebe an Spohr, 10.07.1852.

[1] Auf dem Adressfeld befindet sich rechts unten der Poststempel „Mainz [1846] / 11 / I / 11-12“.

[2] Zur Aufführung in Kassel vgl. „Cassel“, in: Wiener allgemeine Musik-Zeitung 7 /1847), S. 496.

[3] Zur Erstaufführung in München vgl. „[Esser’s neue Oper]“, in: Neue Zeitschrift für Musik 22 (1845), S. 148.

[4] Zur Erstaufführung am 05.04.1847 vgl. „Frankfurt a./M.“, in: Allgemeine musikalische Zeitung 49 (1847), Sp. 250.

[5] Vgl. H[einrich] Truhn, „Aus Berlin. Saison 1847/48“, in: ebd., Sp. 196-199, 218-222, 263-268 und 284-288, hier Sp. 196-199; Th.M., „Berlin, 16. October“, in: Illustrirte Theater-Zeitung 1 (1846), S. 241f., hier S. 241.

[6] Vgl. „Theater in Bern“, in: Intelligenzblatt für die Stadt Bern (1845), S. 239f.

[7] Vgl. Vorbrief.

Kommentar und Verschlagwortung, soweit in den Anmerkungen nicht anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (20.08.2021).