Autograf: Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), Sign. 4° Ms. Hass. 287
Hochverehrter Herr Capellmeister!
Meine Schwägerin1, die Sie in Carlsbad gesehen haben, ist krank aus Egypten zurückgekommen; sie hatte dieses unwirthbare Land nach ihrer Verheirathung fast zwei Jahr bewohnt, auf der Krise ihren Erstgeborenen verloren und sehr viel ausgestanden. Sie kam zu uns auf das Land, erkrankte und so geschah es, daß wir erst Ende November nach Wien kamen, wo Herr Hoffmeister mir Ihren lieben Brief vom 8. v. M. sammt Partitur übergab. Die ersten Tage gab es sehr viel zu thun, ich konnte nicht die nöthige Ruhe gewinnen, um Herrn Stähle‘s Werk aufmerksam durchzulesen und so verging der ganze Monat, ehe ich zur Beantwortung Ihrer geehrten Zuschrift gelangte. Vergeben Sie mir, die Umstände sind meine Entschuldigung.
Da sich jetzt zu unserer Freude sehr viele junge Talente wieder der ernsten, classischen Gattung zuwenden und man uns von vielen Seiten Sinfonien, Chöre, Ouvertüren, Psalmen u.s.w. anträgt, von welchen nur Wenige in unsern Concert Spirituels aufgeführt werden können, weil unser vereintes Publicum nur anerkannt Classisches will, so haben wir uns entschloßen, von 1846 angefangen, jährlich zwei Cyclen von Concerten zu geben; wieder nach alter Weise, ernste Spirituels in den Fasten und andere im Advente, welche den Bestrebungen jüngerer Tonsetzer gewidmet sind, denn unser Zweck ist ja bloß die rechte Kunst, die wir durch die That gegen den neuen Ungeschmack vertreten wollen. In einem dieser Concerte werden wir Herrn Stähle‘s Werk zur Aufführung bringen und ich habe deshalb schon mit Herrn Hoffmeister Abrede genommen, dem ich auch einige Bemerkungen über das Werk selbst mittheilte. Im Ganzen gefällt es mir sehr wohl und bei so viel Lichtseiten laßen sich einige kleine Schatten leicht beseitigen.
Sie haben, Hochverehrter Freund, meinem Collegen Holz eine Concertouverture versprochen und ich bitte Sie auf das Angelegentlichste, mir die Partitur derselben baldigst zukomen zu laßen, damit wir sie vorbereiten und bei Zeiten ausschreiben laßen können. Die Lasten der Abschrift werden wir sehr gern bewältigen und ich ersuche Sie, mir das Musikstück zu Postwagen unter meiner Adresse (Haus 1142 zu Wien) zukommen zu machen. Das Publicum und wir besonders freuen uns sehr darauf.
Berlioz, Félicien David, Evers, Dreyschock, Molique und viele andere sind gegenwärtig hier. Es fehlt nicht an Sinfonien mit Programmen, an musikalischen Malereien [u.]s.w. Mir kommt vor, als beschäftige sich der Componist in solchen Hervorbringungen mit gerechneten Zahlen, d.h. mit Arithmetik, während derjenige, der die allgemeinere, größere Aufgabe zu lösen sich bemüth, mit ungenannten Zahlen, d.h. mit Algebra arbeitet, davon Formeln auch die Himmelsgesetze umstoßen; freilich gibt es im Publicum mehr Leute, welche Arithmetik, als Leute, welche Algebra verstehen.
Wir sind wohl. Meine Frau empfiehlt sich Ihrer bestens, ebenso Freund Holz und alle Wiener Bekannten. Ich bin mit wahrer Verehrung und warmer Anhänglchkeit
der Ihrige Lannoy
Wien 8. Decemb. 1845.
Autor(en): | Lannoy, Eduard von |
Adressat(en): | Spohr, Louis |
Erwähnte Personen: | Berlioz, Hector David, Félicien Dreyschock, Alexander Evers, Carl Hoffmeister, Jakob Holz, Carl Molique, Bernhard |
Erwähnte Kompositionen: | Spohr, Louis : Konzert-Ouvertüre im ernsten Stil, op. 126 Staehle, Hugo : Sinfonien, B.1.a.2 |
Erwähnte Orte: | Wien |
Erwähnte Institutionen: | Concerts spirituels <Wien> |
Zitierlink: | www.spohr-briefe.de/briefe-einzelansicht?m=1845120845 |
Dieser Brief ist die Antwort auf den derzeit verschollenen Brief von Spohr an Lannoy, 08.11.1845. Spohr beantwortete diesen Brief am 26.12.1845.
[1] Noch nicht ermittelt.
Kommentar und Verschlagwortung, soweit nicht in den Anmerkungen anders angegeben: Karl Traugott Goldbach (11.11.2021).